Die protestantische Friedenspolitik

Was gut und böse ist

Margot Käßmann verkörpert exemplarisch, was protestantische Friedenspolitik bedeutet: unbedingte Nichteinmischung, abstrakte Toleranz und endlosen »Dialog«. Doch nicht alle Protestanten feiern die Ökumene so wie ihre Chefin.

Als Margot Käßmann im Oktober vergangenen Jahres Wolfgang Huber als Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) ablöste, brachte sie sich einmal mehr als jene »mutige Frau« ins Gespräch, als die sie unter progressiven Protestanten schon lange gilt. Ihr Ruf verdankt sich allerdings weniger ihren politischen Ansichten als ihrer Biographie. Seit ihre Ehe mit dem Pfarrer Eckhard Käßmann 2007 geschieden wurde, lebt die aus einfachen Verhältnissen stammende Käßmann gemeinsam mit ihrer jüngsten Tochter in Hannover. Sie ist also nicht nur die erste Frau im Ratsvorsitz der EKD, sondern verkörpert auch einen Lebensentwurf, mit dem sich keinesfalls alle Anhänger ihrer Konfession anfreunden können.
Außerdem ist Käßmann in vielen Bereichen des kulturellen Lebens aktiv. Sie besuchte schon während ihres Studiums Israel, war das jüngste Mitglied im Zentralausschuss des Ökumenischen Kirchenrates, engagierte sich für die Teilnahme geistig Behinderter an der Fußballweltmeisterschaft und hat mehr als ein Dutzend Bücher geschrieben, darunter eines über »Spiritualität im Alltag«. Bodenständig und fortschrittlich, verfügt sie in den Augen ihrer Bewunderer über einen hervorragenden Draht zu den »Menschen im Lande«. Nicht das Theoretisieren, das Zupacken gilt als ihre Sache.

Die teils reaktionären Ansichten der neuen Ratsvorsitzenden drohen hinter diesem Bild der entscheidungsfreudigen, starken Frauen manchmal zu verschwinden. Zwar machte sie bereits vor ihrem Amtsantritt durch eine bemerkenswert offene Kritik an der Sexualethik der katholischen Kirche auf sich aufmerksam und äußerte sich ablehnend über die Pläne der Umwandlung ungenutzter Kirchen in Moscheen. Andererseits erklärte sie von Beginn an die Stärkung eines auf Bibel­lektüre und Gebet zentrierten Religionsunterrichts zu ihrer Sache und beanstandete, man spreche im Fach Religion zu viel über »Sekten« und »Drogen«.
Außerdem ist Käßmann bekannt für ihre ökumenische Fähigkeit, eigene Meinungsäußerungen, die nicht bei jeder Bevölkerungsgruppe auf Zustimmung stoßen, umgehend zu relativieren. Als ihr nach ihren Auslassungen zur Moscheenfrage Islamfeindlichkeit vorgeworfen wurde, stellte sie klar, es sei natürlich Sache der Gemeinden, wie mit diesem Thema umzugehen sei. Den Kampf gegen Rechtsextremismus, der ihr ebenfalls am Herzen liegt, will sie weniger durch politische Aufklärung als durch Gebete und das Verteilen von Schals an Gläubige führen. Auch sieht sie keinen Widerspruch darin, sich einerseits für einen »Dialog« mit dem Judentum zu engagieren, andererseits aber zu fordern, die deutschen Vertriebenen müssten über ihr »Leid« reden dürfen (Jungle World 33/09).

Auch als es zu einer Debatte kam, nachdem die Ratsvorsitzende in ihrer Weihnachtspredigt Kritik am Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr geübt hatte, in ihrer Weihnachtspredigt sprach Käßmann in gewohnter Weise davon, man habe sie »missverstanden« und sie sei »schockiert, was so aus meiner Predigt gemacht wird«. Dabei ist sie mit ihrer Empörung in gewisser Weise sogar im Recht. Denn tatsächlich hatte sie keinesfalls im Jargon der Linkspartei einen sofortigen Abzug aus Afghanistan gefordert, sondern lediglich einige feiertagskompatible Platitüden darüber von sich gegeben, dass Krieg immer böse und die Welt im Allgemeinen nicht gut sei. »Nichts ist gut in Sachen Klima«, belehrte sie die Gemeinde, um zusammenhanglos fortzufahren: »Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet werden.« Die Menschheit brauche, folgerte sie im Stil einer dilettierenden Gesprächstherapeutin, »mehr Phantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen«, um sich anschließend noch über das erhöhte Armutsrisiko von Kindern, die Depression von Robert Enke und die kapitalistische Ellenbogengesellschaft auszulassen, die allesamt bewiesen, dass auf der Welt »nicht alles gut« sei.
Wer in solchem Gabentischgeschwätz provokative Ansichten zu entdecken glaubt, der muss an Hypernervosität leiden. Ein dezidiert politisches Statement, darin ist Käßmann völlig im Recht, ist in ihm jedenfalls nicht enthalten. Deshalb konnte die Bischöfin, ohne mit sich selbst in Konflikt zu geraten, prompt klarstellen, sie habe lediglich den »Vorrang des Zivilen« beim Bundeswehreinsatz betonen und der Bundesregierung keinesfalls ins Handwerk pfuschen wollen. Auf die Einladung von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, mit ihm nach Afghanistan zu fahren, hat sie denn auch mit ihrer üblichen »Dialogbereitschaft« reagiert.

Tatsächlich ist es gerade das zwanghafte Rede- und Austauschbedürfnis, das an Käßmanns Predigt übel aufstößt und unter der Hand dann doch eine politische Stellungnahme enthält. Wie die Mehrheit der einflussreichen Vertreter der Evangelischen Kirche steht die Bischöfin für ein Verständnis ökumenischer Politik, dem die theologische Wahrheitsfrage, ganz im Gegensatz zum Katholizismus, längst abhanden gekommen ist.
»Böse« ist dieser Kummerkastenideologie zufolge immer nur, wer sich dem Gespräch entzieht, unverrückbare Positionen vertritt und auf einer Wahrheit beharrt, die sich nicht im gegenseitigen Tolerieren noch der inhumansten Weltanschauungen erschöpft. »Gut« ist dagegen die voraussetzungslose Redebereitschaft im Dienst inhaltsleerer »Konfliktbewältigung« sowie die Entscheidung, »Frieden« nicht als ein Ergebnis mitunter auch unfriedlicher politischer Handlungen, sondern von »Phantasie« zu verstehen. Eben dies meint die Bischöfin mit dem »Vorrang des Zivilen«. Als »zivil« gilt ihr nicht die Verteidigung der Zivilisation, sondern der Verzicht auf möglicherweise missliebiges politisches Handeln. Was von Politik danach noch übrig bleibt, reduziert sich tatsächlich auf jene »Phantasie«, die Käßmann im Jargon der Friedensbewegung als einzig humane Option beschwört.
Dieser Logik zufolge ist es natürlich auch nicht reaktionär, sondern human, mit den Vertriebenenvertretern ebenso wie mit der Jüdischen Gemeinde zu »reden« und den Repräsentanten aller Religionen die Türen offen zu halten, solange diese ihrerseits bereit sind, beim gesprächstherapeutischen Kaffeekränzchen mitzumachen. Wer sich dem verweigert, wird dann gern als »fundamentalistisch« auf seinen Platz verwiesen, ob es nun um Sharia-Apologeten oder um Verteidiger des Zölibats geht. Völlig aus dem Blick gerät dabei, dass absolute Wahrheitsansprüche in den verschiedenen Religionen einen durchaus unterschiedlichen Stellenwert haben und sich keineswegs gleichermaßen als Ausdruck fundamentalistischer Borniertheit abkanzeln lassen. So ist die Sexualethik der katholischen Kirche zwar gewiss unsympathisch, aber nicht »fundamentalistisch«, weil sie nur für den Bereich der Kirche Geltung verlangt, jedoch nicht als universales Glaubensprinzip.
Wer solche Unterschiede im Namen ökumenischer Toleranz nivelliert, dem fällt es leicht, das Leiden der »Zivilisten« in Afghanistan zu beklagen, ohne zu fragen, ob dort so leicht zwischen »Zivilisten« und »Kämpfern« zu unterscheiden ist. Die Erinnerung an den »Vorrang des Zivilen« ist insofern identisch mit dem Appell, die Frage, wer in Afghanistan denn überhaupt von wem »befreit« werden soll, absichtsvoll in der Schwebe zu lassen.Toleranz und Positionslosigkeit konvergieren und ergeben eine protestantische Neuauflage jener Nichteinmischungsideologie, die schon die deutsche Friedensbewegung für evangelische Pfarrer so anziehend gemacht hat.

Selbst die Evangelische Kirche kennt jedoch dif­ferenziertere Ansichten darüber, was »gut« und »böse« genannt werden könne und in welchen Grenzen sich der »ökumenische Dialog« sinnvollerweise zu bewegen habe. Zu deren pointiertesten Vertretern gehört Käßmanns Vorgänger Wolfgang Huber, der zwar ebenfalls die Ökumene feiert und sogar in der Friedensbewegung aktiv gewesen ist, jedoch bereits 2001 mit seiner vielfach kritisierten Rede von der »interreligiösen Schummelei« die multikulturelle Konsensverliebtheit der Ökumene in ihrem Verhältnis zum Islam aufs Korn genommen hatte. Auch der Widerspruch aus den eigenen Reihen sowie aus islamischen Communities konnte Huber bis zum Ende seiner Amtszeit nie zu einem wirklichen Widerruf seiner Äußerungen veranlassen. Im Gegenteil warnte er noch 2008 vor einer drohenden »Islamisierung« und kritisierte öffentlich die antichristlichen Auslassungen des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Gegenüber der Fraktion, für die Huber steht, repräsentiert die Berufung Margot Käßmanns also tatsächlich einen Richtungswechsel, weg von einem ebenso dogmatischen wie streitbaren Protestantismus hin zu einer möglichst konfliktfreien Friedenspolitik. Eine Art Obamaisierung der EKD also? Um das zu beurteilen, bleibt abzuwarten, welchen Einfluss ihre Position auf das tatsächliche Regierungshandeln haben wird.