Haiti muss unabhängig bleiben

Haiti muss unabhängig bleiben

Wenn die Hilfe aus dem Ausland mit Maschinengewehren daherkommt, ist Misstrauen angesagt. Vor allem, wenn in westlichen Ländern schon diskutiert wird, ob man Haiti unter Vormundschaft stellen sollte.

Die Stunde der Katastrophen, oder die kurz danach, ist die Stunde der unerbetenen Vorschläge. Alles wird gut, verkünden die Scharlatane, folgt man nur ihrem Rezept. Und so ist es auch nach dem Erdbeben in Haiti, wo einmal mehr die neuesten Superrezepte aus der Ferne verkündet werden.
Eines von ihnen lautet, man müsse doch nur gescheiterte Staaten, so genannte failed states, ihres letzten kümmerlichen Rests an Souveränität berauben und sie unter eine Obhut stellen, die natürlich nur ihr Bestes im Sinn habe. Naturkatastrophen sind willkommene Anlässe, um solche Pläne hinauszuposaunen. Das französische Wochenmagazin Marianne übertitelt einen sechsseitigen Beitrag in seiner aktuellen Ausgabe: »Soll man Haiti unter Vormundschaft stellen?« Zu Wort kommt etwa François Heisbourg, Berater bei der französischen Stiftung für strategische Forschungen (FRS). »Ja«, antwortet der einflussreiche Politikmanager unumwunden.
Westlich des Atlantik werden ähnliche Fragen nicht nur in Think Tanks diskutiert: Die US-Army übt sich längst in der Praxis. Am Montag sollte die Zahl ihrer Soldaten in Haiti 20 000 erreichen. Selbstverständlich ist dort eine schnelle und effiziente Katastrophenhilfe erforderlich. Nur steht auf einem anderen Blatt, warum man dafür einen atomgetriebenen Flugzeugträger – die USS Carl Vinson – und eine überdimensionierte bewaffnete Armada mit Sturmgewehren und leichten MG benötigt. Ein Gutteil der Soldaten dient nach den Aussagen der Regierungen dazu, Plünderungen zu verhindern – die bösen »Plünderer« sind aber in der Regel lediglich Bewohner des Lan­des, die bei der Erdbebenkatastrophe alles verloren haben und um ihr Überleben oder das ihrer Kinder kämpfen.
Ein anderer Teil des massiven militärischen Auf­gebots dient offenkundig dazu, »Flüchtlingsströme« vom Hafen von Port-au-Prince abzuhalten. Dort kreuzt derzeit die US-Küstenwache, und das wohl nicht zufällig.

Die Armee hegt dabei nicht unbedingt bösen Willen: Eine hochgerüstete Armee führt sich einfach auf, wie es ihrer Natur entspricht. Aus diesen Gründen scheiterte die Intervention »Restore Hope« in Somalia, die im Dezember 1992 mit dem Abladen von Reis am Strand von Mogadischu begonnen hatte. Ein Gutteil der Somalier erlebte die in den folgenden Monaten stationierten Trup­pen schlicht als Besatzungsmacht.
Haiti war die erste und weltweit einzige Repu­blik, die aus einer erfolgreichen Revolte von Sklaven hervorging. Diese Geschichte, die viele Ein­wohner trotz der Armut ihres Landes noch heute mit Stolz erfüllt, begann im Jahr 1804. Und von diesem Zeitpunkt hörten die Großmächte nicht auf, Haiti einen hohen Preis für diese Unbotmäßigkeit bezahlen zu lassen. Die USA brauchten 60 Jahre, um die Unabhängigkeit Haitis anzuerkennen. Frankreich tat das offiziell »schon« 1825, aber im Tausch gegen hohe Reparationszahlungen, die Haiti noch bis 1888 abbezahlte. Stattdessen hätte in Wirklichkeit Frankreich, das vor der Unabhängigkeit eine halbe Million Sklaven auf Haiti ausgebeutet hatte, dem Land Schadensersatz zahlen müssen – und nicht umgekehrt. Von 1915 bis 1934 stand das Land unter direkter militärischer US-Besatzung. In jene Zeit fällt zwar eine Stabilisierung des Staats bei gleichzeitiger harter Repression, aber auch die Einführung einer industrialisierten Landwirtschaft, die die Agrarproduktion auf den Export trimmte und Formen der Selbstversorgung erschwerte.
In den vergangenen 20 Jahren sabotierten mas­sive Exporte von hoch subventioniertem Reis aus den USA weiterhin Haitis Landwirtschaft, wäh­rend andere Firmen aus den USA versuchten, Einwohner in Sweatshops schuften zu lassen. All diese Weichenstellungen hemmten von Anfang an bis heute Haitis ökonomische Entwicklung.

Der Umgang der westlichen Mächte mit den Haitianern war noch nie selbstlos. Und es gibt keinen Grund, warum es morgen anders sein sollte. Helfen könnte es den Bewohnern Haitis hingegen, würde man ihnen Möglichkeiten für eine einigermaßen selbstbestimmte Existenz gewähren. Und dazu würde in erster Linie die Annullierung sämt­licher »Schulden« des Landes gehören.
Zudem sollten die westlichen Großmächte, wenn sie wirklich erpicht darauf sein sollten, die Haitianer »fürsorglich« unter ihre Herrschaft zu stellen, unverzüglich eine weitere Forderung erfüllen: dass alle in Frankreich, in den USA und anderswo lebenden Haitianer unverzüglich die Staatsbürgerschaft dieser Länder mitsamt den dazu gehörigen Rechten erhalten. Eine sofortige Legalisierung von »illegalen« Einwanderern aus der Karibikrepublik samt einem Recht auf Familienzusammenführung etwa wäre ein erster Schritt.