Die griechische Krise und die Strategie der EU

Europäische Schocktherapie

In Europa geht die Angst vor dem Auseinanderfallen der Eurozone um. Nicht nur die griechische Schuldenkrise gefährdet die Stabilität der Gemeinschaftswährung, sondern auch der drohende Bankrott in weiteren Mitgliedstaaten. Am Umgang mit Griechenland will die EU ein Exempel statuieren.

Die Politik der EU gegenüber Griechenland zeigt durchaus imperiale Züge. Das Land wird in seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik auf den Status eines Protektorats herabgedrückt. Gleichzeitig wird die Regierung gezwungen, ein radikales Sparpaket durchzusetzen, das die meisten Belastungen auf die Arbeiterinnen und Arbeiter abwälzt. Damit nehmen die EU-Kommission, aber auch die deutschen und französischen Regierungen soziale Unruhen in Kauf. Das sagt einiges über die Entschlossenheit dieser Flucht nach vorne aus, aber auch über die Verzweiflung angesichts dessen, was noch droht, wenn jetzt keine klaren Zeichen gesetzt werden.
Die EU-Staaten werden einen beträchtlichen Teil des griechischen Defizits finanzieren müssen, was deren haushaltspolitische Belastung in Zeiten der Krisenprogramme und der Rekordverschuldung an die Schmerzgrenze treiben dürfte. Tun sie es nicht und droht Griechenland der Staatsbankrott, könnte dies die Stabilität der Gemeinschaftswährung in Frage stellen und das Vertrauen in die Belastbarkeit des Euro massiv erschüttern. Der gleiche Effekt dürfte auch bei einem Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone eintreten, vor allem die psychologische Wirkung wäre verheerend.

Schon kursieren die Namen der nächsten vier ­potentiellen Pleitekandidaten: Portugal, Spanien, Irland und Italien. In Portugal stieg das Staatsdefizit im vergangenen Jahr nach Angaben der Regierung auf 9,3 Prozent. Das ist mehr als dreimal so viel, wie der EU-Vertrag zulässt. An den Finanzmärkten blieb die portugiesische Regierung bei der Schuldenaufnahme auf einem Teil ihrer neu aufgelegten Staatsanleihen sitzen. Statt 500 nahm sie nur 300 Millionen Euro ein. Rating-Agenturen drohen bereits damit, Portugals Kreditwürdigkeit herabzustufen, was die Schuldenaufnahme weiter verteuern würde.
In Spanien erlebte mit der Immobilienkrise auch die noch vor wenigen Jahren boomende Bauwirtschaft einen Zusammenbruch. Spanien ist eines der EU-Länder, die am härtesten von der internationalen Krise getroffen wurden. Die Staatsverschuldung stieg 2009 nach Angaben der Regierung auf 11,4 Prozent. Die spanische Regierung will – ähnlich wie die portugiesische – in den kommenden drei Jahren ein hartes Sparprogramm im Umfang von 50 Milliarden Euro realisieren.
Irland erlitt in den vergangenen 12 Monaten einen gewaltigen ökonomischen Einbruch, der vor allem den Finanzsektor schwer traf. Das irische Haushaltsdefizit betrug nach Angaben der EU im vergangenen Jahr 12,5 Prozent, den zweithöchsten Wert nach Griechenland. Ursachen hierfür sind nicht zuletzt die Ausgaben zur Rettung der Banken. Mit gut 355 Milliarden Euro gab die irische Regierung europaweit die meisten Mittel hierfür aus.
Italiens Haushaltsdefizit lag im vergangenen Jahr bei 5,3 Prozent, was noch relativ gemäßigt klingt, verglichen mit dem, was nun aus anderen Ländern gemeldet wird. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Entscheidung, Italien in die Gemeinschaftswährung zu integrieren, eine vorwiegend politische war. Der italienische Staat war und ist nach wie vor weit entfernt davon, die Stabilitätskriterien der Eurozone zu erfüllen.
Die Haushaltskrise in Griechenland offenbart die Schwäche des politischen und ökonomischen Projekts der Europäischen Union. Die einflussreichen Machtgruppen in der EU zahlen nun den Preis einer wirtschaftlichen Expansion, bei der die Stabilitätskriterien eine untergeordnete Rolle spielten. Worum es dabei ging, hat der ehemalige grüne Europa-Abgeordnete Frieder O. Wolf erst jüngst benannt. Der europäische Binnenmarkt, wie ihn der Maastrichter Vertrag von 1992 definiert, habe sich »als ein tief greifendes und weit reichendes Instrument der marktradikalen Deregulierung durchgesetzt. Mit der Schaffung einer vollständig ›entpolitisierten‹ Einheitswährung unter der Verantwortung einer Europäischen Zentralbank, die faktisch ohne jede Rückbindung an demokratische Politik allein dem Ziel der Geldwertstabilität verpflichtet ist, gelang der EU die Verwirklichung einer monetaristischen Konzep­tion der Geldpolitik, die bis dahin als eine uto­pische Modellvorstellung galt.« Mit der Erweiterung im Mai 2004 habe die EU dem westeuropäischen Kapital einen privilegierten Zugang zu den Arbeitskräften, den Ressourcen und den Anlagemöglichkeiten der mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer erschlossen, diesen Ländern dabei aber auch eine Alternative zu ihrer »Lateinamerikanisierung« oder gar »Afrikanisierung« geboten.

Die EU und ihre Gemeinschaftswährung stellen einen historischen Kompromiss zwischen den politischen und ökonomischen Interessen der Regierungen Deutschlands und Frankreichs und deren wichtigsten Kapitalfraktionen dar. In den vergangenen Jahren hat sich immer wieder gezeigt, wie fragil dieser Kompromiss ist. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kontroverse über die europäische »Wirtschaftsregierung« der 16 Euro-Länder, die von Frankreich seit Jahren propagiert und von Deutschland abgelehnt wird. Nun soll es sie geben, allerdings in einer auf alle 27 EU-Länder ausgedehnten und damit deutlich abgeschwächten Variante. Und es ist absehbar, dass diese gemeinsame Wirtschaftsstrategie der EU vor allem zur Durchsetzung marktradikaler Reformen in den einzelnen europäischen Ländern führen wird.
Die Defizitkrise in Griechenland und in weiteren EU-Staaten könnte diese Gelegenheit bieten. Durch einen politischen Gewaltakt wird Griechenland eine Schocktherapie aufgezwungen. Diese soll alle neoliberalen Deregulierungsmaßnahmen, die bisher gesellschaftlich nicht zu realisieren waren, auf einen Schlag durchsetzen. Offenbar setzt man dabei darauf, dass der drohende Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft eine lähmende Wirkung auf die Bevölkerung ausübt und den Widerstand gegen die anstehende Enteignung öffentlichen Eigentums entscheidend schwächt. Diese konzentrierten Überfälle auf die öffentliche Sphäre nach verheerenden Ereignissen nennt Naomi Klein »Katastrophen-Kapitalismus«.
Was hier am Beispiel Griechenlands vorexerziert wird, kann auch anderenorts praktiziert werden. Um dafür die Voraussetzungen zu schaffen, wird durch die Härte der geforderten sozialen Einschnitte der soziale Aufruhr in Griechenland regelrecht provoziert. Einerseits kann man dadurch abschätzen, wie weit man gehen kann – zumal aus Sicht der EU radikale Haushaltskürzungen schlicht unabdingbar sind. Zum anderen hat die Strategie der EU aber auch die Funktion, jenen Kräften, die sich gegen die Schockstrategie wenden – den Gewerkschaften, der politischen Linken und den sozialen Bewegungen – eine exemplarische Niederlage zuzufügen.
Damit könnte auch Nicolas Sarkozy die renitenten französischen Gewerkschaften schlagen und gute Voraussetzungen für die bisher durch breite Proteste und Generalstreiks verhinderten groß angelegten Privatisierungen im eigenen Land schaffen. Die deutsche Regierung wiederum hätte einen Präzedenzfall für die Durchsetzung des eigenen Sparprogramms, dessen Vorlage nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Wetsfalen im Mai gewiss ist.
Eine Folge dieser vor einem Jahr noch nicht denkbare Zuspitzung der politischen Lage könnte die Durchsetzung einer übergeordneten Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU als marktradikalem Modernisierungsinstrument sein. Denkbar ist aber auch eine Ausweitung der Krise und der sozialen Kämpfe gegen die in der ökonomischen Logik des bürgerlichen Staates unausweichlich gewordene Abschmelzung öffentlicher Leistungen und sozialer Sicherungen. Die Streikbewegungen in Griechenland sind also von größter Bedeutung für das künftige gesellschaftliche Klima in weiteren Staaten der EU. Der alte operaistische Slogan »Die Arbeiter produzieren die Krise«, der in den vergangenen Jahren eher als subjektivistische Überspitzung abgetan wurde, könnte hier eine ungeahnte Aktualität erhalten.