Das Urteil zu den Hartz-IV-Sätzen

Korrekte Sachen

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Leistungssätzen klingt nicht schlecht, bringt aber den Betroffenen kaum eine Verbesserung ihrer materiellen Lage. In den nächsten Monaten dürfte es vor allem darum gehen, ob die Leistungen in bar oder als Sachleistungen ausgezahlt werden.

»Eine schallende Ohrfeige für die Rechtsbrecher in Parlament und Regierung« nennen es die einen, »eine schallende Ohrfeige für Rot-Grün« die anderen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) über die Berechnung der Hartz-IV-Leistungssätze ist so formuliert, dass sich das Gericht vor Zustimmung nicht retten konnte.
Die »Linke« lobte die Richter und bekräftigte ihre Forderung nach einer Erhöhung der Leistungssätze auf 500 Euro. Die Fraktionsvorsitzende der FDP, Birgit Homburger, sagte, das Urteil werde finanziell »überschaubare Folgen« haben und den Plänen ihrer Partei für Steuersenkungen nicht im Wege stehen. Fast alle Verbände und Parteien bekundeten ihre Zustimmung, und die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sagte nach der Verkündung des Urteils, es sei ein »sehr wichtiger Tag« für die Kinder in Deutschland.

Das Urteil besagt, dass die Berechnung der Leistungssätze nicht vereinbar mit dem Grundgesetz ist und bis zur Jahreswende verbessert werden muss. Die bisherigen Berechnungen der Regelleistungen wurden als »Schätzungen ins Blaue hinein« kritisiert. Die Entscheidung, die Leistungen auf damals 345 Euro im Monat für einen Ein-Personen-Haushalt festzulegen, sei vor allem eine politische gewesen. Das Gericht hebt hervor, dass jeder Hilfsbedürftige das Anrecht auf die materiellen Voraussetzungen hat, die »für seine phy­sische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und po­litischen Leben unerlässlich sind«. Die Richter untermauerten die Entscheidung mit Hinweisen auf die Grundgesetzartikel über die Menschenwürde und die Sozialstaatlichkeit.
Das Urteil ist schön ausgewogen, weil es sich streng gegen alle Beteiligten gibt. Den Arbeitslosen, die auf mehr Geld hoffen, wird mitgeteilt, dass die Sätze »an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten« seien. Die Höhe der bisherigen Leistungen könne »nicht als evident unzureichend angesehen werden«. Entscheidend im Sinn des Urteils ist die Behebung der Willkür der bisherigen Berechnungsmethode; was die Gesetzgeber bis zum Jahresende neu ausrechnen werden, bleibt offen.

Die eigentliche Neuigkeit aus Karlsruhe ist somit die Bekanntgabe der Kriterien für eine verfassungsgemäße Berechnung der Leistungssätze. Somit eröffnet sich die Möglichkeit, dass die Leistungssätze zumindest ab 2011 das Gütesiegel des Verfassungsgerichtes haben und damit als völlig korrekt anerkannt sein werden. Gerhard Schröder und die anderen Erfinder der »Agenda 2010« standen eher für ein gesellschaftlich gewolltes Willkürregime gegenüber den Langzeitarbeitslosen. Auf die Krise des Staatshaushaltes und des Arbeitsmarktes reagierten sie mit der Senkung der alten Arbeitslosenhilfe. Allen war klar, dass man den Betroffenen dabei übel mitspielte – aber was will man machen? Das BVG kritisiert das zentrale Gesetzesprojekt von Rot-Grün mit protestantischer Korrektheit: Wer streng mit anderen ist, muss streng mit sich selbst sein, und daher muss »die Festsetzung der Leistungen auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sein«.
Wenigstens die Strenge gegen sich selbst dürfte bald vergessen sein. Die meisten Politiker der Regierungskoalition haben bereits das Fazit gezogen, dass das Urteil keine Erhöhung der Leistungen vorschreibt. Ihre Meinungen liegen mehrheitlich zwischen der des FDP-Steuerexperten Hermann Otto Solms, der bei den Hartz-IV-Leistungen sogar Einsparmöglichkeiten sieht, und der Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die, es müssten ja nicht unbedingt Geldleistungen sein, etwas für die Kinder dazugeben will. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagte, »dass, wenn man Geld gut investieren will, es in Bildung von Kindern investiert, weil sich das später mehrfach auszahlt«.
Schon ist man in der Debatte bei der Frage angelangt, in welcher Form die »Investitionen« getätigt werden sollen. Recht unfreundlich formuliert es der FDP-Bundestagsabgeordnete Martin Lindner: »Ich möchte nicht, dass wir über ein neues System Anreize schaffen, dass man übers Kinderkriegen Geld verdienen kann.« Auch andere Politiker aus CDU, CSU und SPD sprechen sich für Sachleistungen aus – vom Kühlschrank über den Schulranzen bis zum Taschenrechner. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Arbeitnehmergruppe, Peter Weiß, gibt dabei zu bedenken: »Die Bezieher von Arbeitslosengeld II können nicht unbedingt mehr Geld erwarten, beim Staat entstehen aber mehr Bürokratiekosten.«
Arbeitslose würden mit der Umwandlung von Geldansprüchen in Sachleistungen wieder zu Antragstellern für die Befriedigung einzelner Bedürfnisse gemacht. Gleichzeitig werden sie in dem grundlegenden Selbstbestimmungsrecht beschnitten, eigenständig wirtschaften zu können. Ganz konkret bedeuten Sachleistungen für die Arbeitslosen mehr Rennerei zum Amt. Jeder gestellte Antrag kann auch abgelehnt werden. Und das Einkaufen mit Gutscheinen stigmatisiert die Betroffenen. Sozialpolitisch bedeutet diese Debatte einen Rückschritt im Vergleich zu den früheren Praktiken bei der Vergabe der Sozialhilfe. Die Folgen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts könnten, wie üblich, die Betroffenen zu spüren bekommen.

Der Bürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln, Heinz Buschowsky (SPD), bringt gern anschau­liche Beispiele: »Wenn die Gesellschaft Kindergarten- und Hortplätze, Ganztagsschulen und Mittagessen kostenfrei bereitstellt, dann sind das geldwerte Vorteile, die das Familienbudget entlasten. Die Versuchung der Zweckentfremdung wäre hierbei gebannt.« Sicher kann es sinnvoll sein zu prüfen, was sich in den Familien abspielt, und man kann es befürworten, Kindergartenplätze, Schulessen usw. erschwinglich oder umsonst bereitzustellen. Allerdings ist die selektive Debatte über Sachleistungen für Arbeitslose diskriminierend. Eine Politik, die sich gegen die soziale Abschottung einer Unterschicht richtet, würde eine solche Bevormundung von Arbeitslosen ablehnen.

Die Absicht, ein Segment der Gesellschaft zumindest teilweise mit Sachleistungen abzuspeisen, ist sicher auch ein repressiver Reflex, der durch das Verschwinden unterhaltssichernder Verdienstmöglichkeiten ausgelöst wird. Das Unbehagen über diese permanente Gefährdung des eigenen Status kann abgespalten werden und richtet sich dann gegen die Langzeitarbeitslosen, die angeblich an allem schuld sind. Dabei gibt es verschiedene Eskalationsstufen. Was ist mit dem Lohnabstandsgebot? Wir schleppen die Hartzer durch, aber was leisten sie dafür? Und was stellen die an, wenn man ihnen mehr Bargeld gibt? Die Antwort darauf hat Guido Westerwelle in der Welt geliefert: »Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.«
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts enthält nicht die von vielen erhoffte Vorgabe, Armut ernsthaft zu verringern. Das Beste daran könnte sein, dass die Betroffenen nicht länger auf Hilfe »von oben« hoffen. In der Auseinandersetzung um die neuen Hartz-IV-Sätze in den kommenden Monaten dürfte es auch um Bürgerrechte gehen. Hier gilt es, die Vorstellung von Arbeitslosen als Bürger zweiter Klasse zurückzuweisen. Erprobt ist die diskriminierende Praxis, die derzeit verhandelt wird, schon längst: Für Flüchtlinge sind Residenzpflicht, Geldleistungen unterhalb des Existenzminimums und Sachleistungen nichts Neues.