Deutsche Auswanderer

Nicht zum Aushalten hier!

Nach dem aktuellen Migrationsbericht kann sich Deutschland offiziell als Auswanderungsland bezeichnen. Vor allem gut ausgebildete Bürger zieht es in die Ferne.

»Wenn man eincheckt, bevor man irgendwohin fliegt«, sagt Helin*, »tut man das nicht mehr bei einer Fluggesellschaft, sondern bei einer so genannten Ground-Handling-Firma, die für diese arbeitet.« Helin weiß das, denn sie hat lange im Bereich des »Ground Handling« gearbeitet und kennt die Berliner Flughäfen Tegel und Schönefeld wie ihre Westentasche. Auch sie war nicht bei einer Fluggesellschaft direkt angestellt, genauso wenig aber bei der jeweiligen Ground-Handling-Firma, für die sie gerade tätig war. Helin arbeitete für eine große deutsche Zeitarbeitsfirma. Und sie verdiente sechs Euro pro Stunde. Brutto.

»Manchmal musste man nur für zwei Stunden kommen. Auch nachts. Das heißt, du fährst raus zum Flughafen, machst zwei Stunden und fährst wieder zurück.« Die Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit seien gering gewesen, und allein die Fahrt mit dem Nachtbus zum Flughafen habe ewig gedauert. »Und wehe, er hatte Verspätung. Wir mussten ja stempeln.« Weil sechs Euro brutto nicht zum Leben reichen, musste Helin mit der Lohnabrechnung zum Jobcenter. »Dort habe ich was dazugekriegt. Zwei Monate später. Und dann haben die sich immer verrechnet. Deshalb ging es ja auch nicht mehr. Und ich bin wieder arbeitslos.«
Helin ist entweder arbeitslos oder verdient sechs Euro brutto pro Stunde, obwohl sie alles richtig gemacht hat. Die Endzwanzigerin kurdischer Abstammung verfügt über einen mittleren Bildungsabschluss, eine kaufmännische Ausbildung, hat eine Umschulung im Ground-Handling-Bereich absolviert und spricht Kurdisch, Türkisch, Deutsch und Englisch.
Hat sie wirklich alles richtig gemacht? Helin gehört zur immer größer werdenden Anzahl von Menschen, die mittlerweile das Gefühl beschleicht, sie hätten beizeiten fortgehen sollen aus diesem Land oder sollten noch ihre Koffer packen. Während ihre Eltern vor nahezu 40 Jahren aus der Osttürkei nach Nordrhein-Westfalen emigrierten – Helin wurde bei Bielefeld geboren –, denkt sie, die Tochter, nun darüber nach, die umgekehrte Richtung einzuschlagen. Oder irgendeine andere. »Es muss doch einen Ort geben, wo man nicht so behandelt wird wie hier«, sagt sie und erklärt, dass sie sechs Euro brutto und das »Bettelnmüssen« beim Jobcenter vor allem als demütigend empfunden habe. »Das hält man doch nicht aus!« Für Helin hat »die Zeitarbeit alles kaputtgemacht in Deutschland« und ihr die Hoffnung geraubt, jemals eine Perspektive zu haben und ihr Kind entspannt aufziehen zu können. Deshalb will sie nur noch weg.

175 000 Menschen hielten das oder etwas anderes nicht aus in diesem Land und entschlossen sich im Jahr 2008, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Während sich die Zahl der Auswanderer in den Jahren zuvor auf rund 160 000 eingependelt hatte, sind die im aktuellen Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge genannten Zahlen die höchsten seit den fünfziger Jahren. »Erstmals seit 25 Jahren gibt es in Deutschland mehr Abwanderung als Zuzug«, verkündete der Berliner Tagesspiegel am 5. Februar.
Auch Christina* hat keine Lust mehr, in einem Reisebüro für drei zu arbeiten, was ihr abverlangt wird, seit ihre beiden Kollegen entlassen worden sind. »Manchmal komme ich abends erst um zehn nach Hause«, sagt sie, »und so geht das nicht weiter!« Christina steht vor dem Gebäude einer Berliner Volkshochschule und raucht noch eine, bevor ihr Kurs beginnt. »Dänisch für Anfänger« hat sie belegt, denn nächstes Jahr möchte sie nach Dänemark auswandern. Ihr Freund ist schon dort, hat einen Job auf dem Bau gefunden und ist begeistert. »Außerdem ist es von dort aus ein Katzensprung nach Berlin«, erzählt sie, »er kommt alle zwei Wochen, und das kann ich dann ja auch machen.« In ihrem Kurs sitzen Rentner, denen Berlin zu voll geworden ist in der letzten Zeit, irgendwie zu hektisch, und jüngere Leute, die hoffen, dass der dänische Arbeitsmarkt mehr hergibt als der deutsche.
Nebenan läuft Schwedisch. Auch das ist eine Sprache, die sich wachsender Beliebtheit erfreut unter den Deutschen. Anne*, Studienabbrecherin und Empfängerin von ALG II, bewirbt sich gerade um einen Job bei einer Baumarktkette, an der ihr in erster Linie eines gefällt: »Die haben auch Filialen in Schweden. Und da will ich unbedingt hin!« Sie glaubt, dass »einfach alles besser ist als hier«.

Die Deutschen müssen sich also umgewöhnen. Seit Jahrzehnten sind sie daran gewöhnt, dass Menschen aus anderen Ländern unter Umständen große Risiken eingehen, um in Deutschland leben zu können. Nun müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass es gerade Junge und gut Ausgebildete ins Ausland zieht, während diejenigen, die auf staatliche Leistungen angewiesen sind, eher bleiben.
Insbesondere diese Tatsache stellt beispielsweise für die Industrie- und Handelskammer, die bereits 2006 vor einer solchen Entwicklung warnte, ein großes Ärgernis dar. Seitdem ist immer häufiger davon die Rede, dass Deutschland mittlerweile ein Auswanderungsland sei. Der aktuelle Migrationsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bestätigt diesen Eindruck, während das Bundesinnenministerium nur trocken feststellte: »Der seit 2005 festzustellende Wanderungsverlust bei Deutschen hat sich fortgesetzt.« So kann man es natürlich auch sehen.

*Namen von der Redaktion geändert.