Wer nicht geprüft wird, prüft

Einem dummen alten Wort zufolge ist das Kino eine »Traumfabrik«. Wer so etwas sagt, hat noch nie geträumt und war noch nie in einer Fabrik, geschweige denn im Kino. Der Wahrheit wesentlich näher kommt dagegen, dass das Fernsehen eine Alptraumfabrik ist. Nicht, dass der Zuschauer vom Fernsehen Alpträume bekäme, nein, er befindet sich mitten in einem Alptraum. Und der geht so: »Trete vor zur Tafel und berechne den Spiegelpunkt des Punktes D an der Ebene e: 5x1 + 4x2 + 2x3 – 12 = 0.«
Kaum waren meine Prüfungsalpträume vorüber, ging es mit den Prüfungen im Fernsehen richtig los; Quizsendungen, Castingshows, öffentliches Vorkochen. Der Unterschied zwischen »Wer wird Millionär?« und einem Abitur liegt darin, dass bei diesem keine Quatschfragen zum Aufwärmen gestellt werden, aber unser Erdkundelehrer fragte immerhin einmal: »In welchem Ort befindet sich die Bonndeshauptstadt?« Das ist, wie man sieht, schon ein paar Jahre her. Heute würde er vielleicht fragen: »Wie heißt der Reichstag wirklich?«
Aber, andere Frage, worin genau besteht das Vergnügen, einem Kandidaten zuzuschauen, der die Frage lösen soll: »Wie nennt man das traditionelle Pferderennen in Siena? a) Calcio, b) Palio, c) Barolo, d) Boccia.« Denkt der Zuschauer a) gottlob stecke ich nicht in seiner Haut, b) Barolo, haha, so heißt doch unsere Pasta, c) das weiß doch jeder, oder d) die Blamage möchte ich sehen. Besteht das Vergnügen also a) in der Erleichterung, einer Gefahr entronnen zu sein, b) in voreiliger Herablassung, c) in der Lust von Lehrer Lämpel oder d) in Häme? Von allen vieren erscheint mir nur das Motiv der Erleichterung begreiflich. Mit Erleichterung belohnt der Horrorfilm. Zwar erschrickt sich jeder über das Monster, aber umso erfreulicher dann, dass es sich an einem andern sättigt.
Das wäre nun aber so, als wollte einer, statt selbst gefressen zu werden, immerzu andere gefressen sehen. Wer wird davon satt? Und das in einer Zeit, in der es immer schwerer wird, satt zu werden, und die Prüfungen ohnehin nie aufhören, denn wer Friseur gelernt hat, muss bald zum Medienwirt umschulen und, wenn selbst da die Posten ausgehen, sich als Hundesitter bewerben. Wer heute arbeitet, wird den ganzen Tag geprüft und kann sich wohl nur noch damit entspannen, abends andere Blut und Wasser schwitzen zu sehen.
Etwas lernen kann er dabei trotzdem, zwar nicht bei Jauch, aber doch bei »Deutschland sucht den Superstar«, denn keine Sendung zeigt so gut wie diese, dass es bei Vorstellungsgesprächen vor allem darauf ankommt, das Ego einer Jury zu päppeln, die es nötig hat. Denn das ist der finale Alptraum: Es flieht einer vor den Prüfungen und endet in der Prüfungskommission.