Das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie bei Marcuse

Dialektisch bleiben

War Herbert Marcuse ein Vordenker der Grünen? Im sechsten Band seiner nachgelassenen Schriften, »Ökologie und Gesellschaftskritik«, beschäftigt er sich vor allem mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie und dem Umschlag ins Irrationale.

Ökologie und Gesellschaftskritik« lautet der Titel eines Vortrags, den Herbert Marcuse im April 1979 gehalten hat. Dieser Vortrag gab auch dem sechsten Band von Marcuses nachgelassenen Schriften seinen Titel. Allerdings ist diese Betitelung leicht irreführend. Zum einen handelt es sich bei dem Vortrag um den mit Abstand schwächsten Text, in dem Marcuse lediglich argumentiert, dass die Naturzerstörung Teil einer allgemeinen gesellschaftlichen Selbstzerstörung sei, die er von Freuds Todestrieb ableitet. Irreführend ist der Titel jedoch vor allem deshalb, weil dieser Band insgesamt kaum Texte zur Ökologie enthält. Umweltzerstörung war für die Frankfurter Schule kein relevantes Thema. Auch für Marcuse nicht.
Im Zentrum dieser von Peter-Erwin Jansen herausgegebenen Nachlass-Texte steht vielmehr das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, vor allem von Wissenschaftsgläubigkeit in der Philosophie und deren Umschlag ins Irrationale. Viele der hier versammelten Texte stammen aus den dreißiger Jahren und zeigen, dass Marcuse an einem ähnlichen Phänomen wie Horkheimer und Adorno gearbeitet hat. Auch ihm ging es darum, eine Dialektik der Aufklärung herauszuarbeiten, wobei im Zentrum seiner Texte die Frage steht, wie radikal wissenschaftliches, also rationalistisches Denken in den Nationalsozialismus hat münden können.
In einer späten Notiz polemisierte Max Horkheimer gegen Marcuse: »Herbert Marcuse ist der Prototyp der radikalen Intellektuellen, die nicht etwa nur die Missstände im eigenen Land angreifen, sondern auch mit dem Osten sympathisieren. Damit propagieren sie die schlimmste Art der Barbarei.« Marcuse und Adorno, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurückgekehrt waren und in den sechziger Jahren der Studentenbewegung ratlos gegenüberstanden, konnten sich gegen den in Berkeley gefeierten Marcuse nur noch zur Wehr setzen, indem sie sich des Vokabulars des Kalten Kriegs bedienten. Doch die Polemik lief ins Leere. Marcuse »sympathisierte« nicht mit der poststalinistischen Sowjetunion, sondern erklärte die Idee eines humanistischen Sozialismus im konkreten Fall der Sowjetunion für gescheitert.
Aus Horkheimers Notizen, so scheint es, spricht lediglich bittere Enttäuschung über einen Kollegen, der an der Idee des Sozialismus festhielt, obwohl er um die totalitären Strukturen in der Sowjetunion wusste. All das lässt sich nun in dem Aufsatz »Sozialistischer Humanismus?« nachlesen.
Die nachgelassenen Schriften machen deutlich, wie sich Marcuses Denken im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat. Als Student stand Marcuse den Texten Heideggers noch relativ wohlwollend gegenüber. Er kritisierte lediglich, dass dessen Philosophie der »Geworfenheit« fatalistisch sei und keinerlei gesellschaftliche Konsequenzen habe. Marcuse dachte darüber nach, ob es möglich sei, eine Synthese von Heidegger und Marx zu entwickeln, ein Versuch, den später auch Jean-Paul Sartre unternehmen sollte. Doch schon in dem hervorragenden Aufsatz »Deutsche Philosophie zwischen 1871 und 1933« aus dem Jahre 1934 lässt Marcuse kein gutes Haar mehr an Heidegger. Während Adorno in »Jargon der Eigentlichkeit« Heidegger vor allem formal kritisiert und dessen Geraune so zitiert, dass es sich von selbst als solches entlarvt, argumentiert Marcuse inhaltlich. Er zeigt, wie Heideggers Existenzphilosophie dabei half, den Nationalsozialismus zu legitimieren: »Am Ende hat der Mensch keine andere Möglichkeit, als die geschichtliche Situation, in die er geworfen ist, anzunehmen und zu übernehmen«, lautet Marcuses Kritik an der fatalistischen Philosophie Heideggers.
Marcuse betrachtet die Geschichte der deutschen Philosophie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert dialektisch: Der Rationalismus wurde seit den Neukantianern in der Philosophie dermaßen auf die Spitze getrieben, dass er schließlich in einen Irrationalismus umkippte. »Die Wirklichkeit lässt sich nicht erkennen, sie lässt sich nur anerkennen«, zitiert Marcuse den rechten Philosophen Heinrich Forsthoff. In dem Maße, in dem die rationalistische, mit Logik operierende Philosophie die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse völlig ausklammerte, ist auch für deren irrationale Nachfolger keine Veränderung des Gegebenen mehr denkbar: »Die Theorie tritt in den Dienst einer vorgeschriebenen Praxis, die sie verklärt und verschleiert.« Die Ursache sieht Marcuse – hier alles andere als Sozialist – in der schrittweisen Zerstörung eines bürgerlichen Humanismus, wobei die philosophische Kategorie der Geschichte durch die »vorgeschichtliche Sphäre der organischen Natur (Leben, Rasse, Blut, Seele)« ersetzt wurde.
In einem anderen Aufsatz, »Zur Autoritätslehre bei Luther, Calvin und Hobbes«, zeigt Marcuse, dass die völlige Entkopplung eines Gedankengebäudes von gesellschaftlichen und historischen Veränderungen bis zum Protestantismus zurückgeht. In Luthers Schriften entdeckt Marcuse die »totale Rechtfertigung des Bestehenden«. Luther, der gerne zum Rebellen stilisiert wird, steht für Marcuse am Beginn eines Denkens, das jegliche Auflehnung gegen Autoritäten verbietet. Luther zufolge nämlich ist die Seele des Christenmenschen frei, der »äußerliche Mensch« dagegen müsse »dienbarer Knecht« sein. Luther trennte somit strikt zwischen Innenleben und Gesellschaft. Die perfide Folge, so Marcuse, ist die Legitimation jeglicher Staatsgewalt, denn selbst »der Gefangene, der an die Mauern seiner Zelle mit Ketten angeschmiedet ist, ist frei, denn seine Fesseln können seine Seele nicht zwingen und festhalten«. Indem Luther zudem argumentiert, dass einem von einer Amtsperson ausgesprochenen Befehl strikt zu folgen sei, da nur der Mensch, nicht aber sein Amt kritisierbar und fehlbar sei, setzt er, so Marcuse, den Grundstein für die »Autoritätsstruktur der modernen Gesellschaft«, die im Nationalsozialismus gipfelte.
Doch auch die wissenschaftliche Philosophie des Positivismus hat sich als Vorbote nationalsozialistischer Doktrin erwiesen. Zunächst hebt Marcuse in »Thesen über wissenschaftliche Philosophie« positiv hervor: »Die positivistische Kritik an der idealistischen Metaphysik enthält fortschrittliche Elemente, sofern sie die Philosophie vom Himmel auf die Erde zurückführt … « Doch das ist auch schon alles. Die undialektische Negation von Metaphysik führt lediglich zu einer reinen Hinwendung an Tatsachen, die vom Gesamtzusammenhang isoliert und auf ihre bloße »Vorhandenheit« reduziert werden. Die »Güte« solcher Tatsachen wird ebenso wenig in Frage gestellt wie die gesellschaftlichen Verhältnisse. »Das Bild einer zukünftigen besseren Gesellschaftsordnung gilt ebenso als ›Metaphysik‹ wie der krudeste Aberglaube«, konstatiert Marcuse. Auf diese Weise hat sogar Metaphysikfeindlichkeit einen reaktionären Charakter erhalten.
In einem sehr kurzen, aber aufschlussreichen Text von 1933 überlegt Marcuse, wie die Philosophie einer »negativen Metaphysik« aussehen könnte, die zugleich politische Praxis ermöglicht. Seine Ausgangsthese, die er zum Teil noch von Heidegger übernimmt, ist die von der totalen Sinnlosigkeit des Seins. Doch diese Erkenntnis dürfe nicht wie bei Heidegger zu einer Affirmation des Bestehenden führen, sondern müsse zur Erkenntnis führen, dass jede Ordnung jederzeit zerstört werden kann. Marcuse schwebt eine reine Philosophie der Gegenwart vor: »Mächte wie Tradition, Erbe usw. wären für sie nur soweit ›gültig‹, als die Gegenwart aus ihnen ›lernen‹ kann (…).« Dieser Text ist der schwärmerischste unter all den hier versammelten Aufsätzen, zugleich auch der ungenaueste. Marcuse deutet nur an, führt seine Gedanken selten zu Ende. Was meint bloße »Gegenwart« für ein gesellschaftliches Gefüge, insbesondere im Hinblick auf die Frage nach den Machtverhältnissen? Nur so viel erfahren wir: »Der Mensch lebt von seiner Geburt an in einem Kreise von Gewohnheiten (…). Er ist umgeben von Institutionen, Anstalten, Betrieben, die von einer dauernden Gesetzmäßigkeit getragen zu sein scheinen und an deren Stelle, wenn sie erschüttert werden, gleich wieder neue Gesetzmäßigkeiten treten, die ebenfalls wieder ›wie für die Ewigkeit‹ gemacht scheinen.« Marcuse sieht die Ursachen für die Macht der Institutionen also darin, dass sie den Anschein des Ewigen und damit Nicht-Veränderbaren erwecken. Seltsam ist allerdings, dass er seine »negative Metaphysik« fast ausschließlich auf dem Faktor Zeit aufbaut und nicht nach den ökonomischen Bedingungen fragt, die zu den Machtverhältnissen führen.
Peter-Erwin Jansen, der Herausgeber des Marcuse-Nachlasses, erklärt in seinem Vorwort, dass viele der hier vertretenen Thesen und Themenkomplexe »während der Studentenbewegung annähernd vergessen worden sind«. Ähnlich wie die Autoren der »Dialektik der Aufklärung« denkt Marcuse in erster Linie über das Wechselverhältnis von Rationalismus, technologischem Fortschritt und Faschismus nach. Kann es sein, so die Ausgangsfrage, dass ein an sich fortschrittliches Denken und der zivilisatorische Akt der Naturbeherrschung auf die Spitze getrieben worden sind und sie zu einer Zweckrationalisierung des menschlichen Bewusstseins geführt haben? Der Nationalsozialismus war für Marcuse warnendes Beispiel dafür, dass eine Gesellschaft ideologisch auf absolut irrationaler Ideologie aufbauen kann und doch zugleich ein »hochrationalisiertes und durchmechanisiertes Wirtschaftssystem« besitzt. Wie schon in seiner für den amerikanischen Geheimdienst verfassten Studie »Feindanalysen« über die Deutschen und die Ursprünge des Faschismus sieht Marcuse die Wurzeln des nationalsozialistischen Terrors in der deutschen Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts begründet. Ganz gleich, ob Positivismus oder Existenzphilosophie, Lebensphilosophie oder Anthropologie – all diese Strömungen zielten auf eine Überwindung des dialektischen Denkens und haben eine Entpolitisierung der Philosophie vorangetrieben, die mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus wiederum politisch werden konnte. Sei es, indem die Philosophie schwieg, sei es, dass sie den völkischen Spuk lebensphilosophisch unterfütterte, sei es, dass sie als »reine Wissenschaft« jeglichen Bezug zur gesellschaftlichen Lebenswelt abgestreift hatte.
Einige der nachgelassenen Schriften Marcuses geben einen hervorragenden, gut lesbaren Überblick über unterschiedliche philosophische Strömungen und deren Verhältnis zum Nationalsozialismus. Dennoch kann kritisiert werden, dass der Philosoph Marcuse die Wirkungsmacht der Philosophie auf den autoritären Charakter der Deutschen möglicherweise etwas überschätzt hat. Der Nationalsozialismus lässt sich nicht alleine durch die Philosophiegeschichte erklären. Verwunderlich ist auch, dass Marcuse den Antisemitismus nicht erwähnt – eine Leerstelle, die irritiert.

Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften, Band 6: Ökologie und Gesellschaftskritik. 176 Seiten, zu Klampen, 24 Euro