Die Debatte um Westerwelles Äußerungen

Der Stil dient dem Abtasten

Die Debatte um Guido Westerwelles Äußerungen über die Bezieher von Hartz IV wird als Stilkritik geführt. Und nebenbei kann man herausfinden, wie es um das Widerstandspotenzial der Bürger bestellt ist.

Er hat nicht nachgegeben. Guido Westerwelle (FDP) ist bei der großen Sozialdebatte, die am Donnerstag voriger Woche im Bundestag stattfand, in keiner Weise positiv auf seine Kritiker aus den Reihen der Opposition eingegangen. Stattdessen pries er seine »soziale Sensibilität« – »Wer mehr arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet.« Einmal mehr wiederholte er seine These vom geistigen Sozialismus, der in Deutschland vorherrsche. »Wenn man in Deutschland Leistungsgerechtigkeit als rechtsradikal ansieht, dann zeigt das nur, welches linke Gedankengut man mittlerweile im Kopf hat.« Vorausgegangen waren Äußerungen von Politikern der SPD, Westerwelle würde »im rechten Sumpf waten«. Geschickter – weil treffender – geriet ihm seine Retourkutsche dort, wo er darauf hinwies, dass die verfassungswidrigen Hartz-IV-Regelungen schließlich von der rot-grünen Koalition beschlossen worden seien.

Guido Westerwelle hat damit nolens volens das eigentliche Thema der Debatte – die sich vordergründig als Debatte um seinen Stil darstellt – benannt. Westerwelle, der Oldschool-Neoliberale, der Vorsitzende der »Steuersenkungspartei«, der Wiedergänger Jürgen Möllemanns, der Extremist der Mitte, der Amokläufer, ist kein Ausreißer aus der ansonsten harmonischen Sozialstaatsgemeinschaft. Der stramm sozialdemokratische Politologe Franz Walter hat diese kürzlich als »hochkomplexe Verhandlungsdemokratie« bezeichnet. Mit den Hartz-IV-Gesetzen hat der Sozialstaat eindrucksvoll sein aggressives, auf Kontrolle, Anpassungsdruck und Zwang beruhendes Wesen gezeigt. Westerwelle ist nur konsequent, wenn er Hartz IV auch weiterhin nach seinem repressiven Charakter beurteilt und nötigenfalls gegen vermeintliche Laschheiten polemisiert. Er vertritt die Aggressivität des Sozialstaats gegenüber den Subalternen in einer recht offensiven Weise. Und dabei bricht er weder mit dem grundsätzlichen Konsens der Parteien noch setzt er ein neues politisches Paradigma durch.
Warum dann die Aufregung um seine Äußerungen? Zunächst einmal verletzt er die politisch-diplomatischen Gepflogenheiten. Ein Regierungsmitglied, das zudem als Außenminister Deutschland im Ausland repräsentiert, führt sich wie ein Oppositioneller auf. Das gehört sich nicht und bringt gewisse pragmatische Schwierigkeiten mit sich. Denn Westerwelle demonstriert, dass es ihm vor allem um die Profilierung seiner eigenen Partei geht und er dabei auf den behäbigen Stil von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) keine Rücksicht nehmen möchte. Das wird mittelfristig einer effizienten Regierungsarbeit im Weg stehen.

Grundsätzlicher ist die Kritik, dass Guido Westerwelle den Klassenkampf von oben schüre, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem viel dafür spricht, dass die westlichen Industrienationen, Deutschland vorneweg, vor einer lang anhaltenden Depression stehen. Er stört den sozialen Frieden in einem Moment, wo das Establishment doch sehr froh ist, dass eigentlich alle Parteien (mit Ausnahme des Lafontaine-Flügels der »Linken«) diesen Frieden behalten wollen. Westerwelle droht mit seiner aggressiven Mittelstandsrhetorik, und ein möglicher Effekt könnte die Mobilisierung jener Menschen sein, die in den vergangenen Jahren einen beispiellosen Abstieg erlebt haben. Trotz aller versöhnlicher Politikerfloskeln wurde ihnen drastisch vor Augen geführt, dass ihnen wohl niemals die sozialen Aufstiegschancen zugestanden werden, die sie benötigen, um irgendwann selbst einmal dem so genannten Mittelstand anzugehören.
Die Kritik an Westerwelle, wie sie von Hannelore Kraft, der Vorsitzenden der SPD in NordrheinWestfalen, bis hin zur Bundeskanzlerin geübt wird, ist also entweder stilistisch oder taktisch motiviert. Schließlich möchte niemand Hartz IV antasten, selbst Politiker der »Linken« nicht. Klaus Ernst, ihr stellvertretender Fraktionschef im Bundestag, sprach in der Sozialdebatte nur von einer Anhebung der Grundsicherung auf 500 Euro pro Monat und forderte eine Verlängerung für den Bezug von Arbeitslosengeld I. Auch das Verfassungsgericht in Karlsruhe hat mit seinem Urteil über Hartz IV nicht den Inhalt des Gesetzes verworfen, sondern allein dessen Regelungen als verfassungswidrig bezeichnet. Das Elend bedarf der Feinabstimmung, nicht der Abschaffung, so lautet der eigentliche Tenor des Urteils.
Die Debatte um Westerwelles Kritik an der Sozialpolitik ließe sich leicht als Wortgeplänkel entlarven. Allerdings erschöpft sich bürgerliche Politik nicht in Stilfragen. Sie reagiert auf gesellschaftliche Bewegungen, ganz gleich, wie bewusst das den Politikern ist oder nicht. Das Interessante an der Kontroverse um Westerwelles Äußerungen zu spätrömischer Dekadenz und »Leistungsgerechtigkeit« ist, dass sie gewissermaßen einem Drama ohne Chor gleicht: die Bevölkerung fehlt. Auf den Straßen ist nichts von einer Bewegung gegen Hartz IV zu spüren, die Linkspartei, deren Westflügel noch vor wenigen Jahren vornehmlich aus Anti-Hartz-Aktivisten bestand, verfolgt einen pragmatischen Kurs– man möchte ja mitregieren –, die Gewerkschaften sehen sich ohnehin nicht in der Verantwortung für die Bezieher von Hartz IV. Worauf reagiert also Westerwelle, woher kommt der soziale Druck, der ihn zu den – gemessen an Merkels Stil – so grotesk anmutenden Äußerungen getrieben hat?

Es handelt sich um zwei ungelöste Probleme, und für beide wird eine autoritäre Lösung gesucht. Erstens ist immer noch nicht ausgemacht, wie man mit dem sogenannten »abgehängten Prekariat« umgeht. Und dieses Prekariat bleibt eine unkalkulierbare Größe. Was tun? Die Verwahrlosung einfach verwalten – durch permanente bürokratische Gängelung und mediale Inszenierungen von Gemeinschaftlichkeit? Oder die Bezieher von Sozialleistungen gezielt so fördern, dass sie als Druckmittel gegen die noch erwerbstätige Bevölkerung fungieren? Karl Marx hat das einmal »industrielle Reservearmee« genannt. Schaut man sich die Pläne von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) an, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts so in die Praxis umsetzen möchte, dass Familien, oder genauer: deren schulpflichtige Kinder, besser gefördert und unterstützt werden, dann geht es in die zweite Richtung: Ziel ist die Instandhaltung zukünftiger potentieller Arbeitskräfte. Mag sein, dass Westerwelle da einfach illusionsloser ist und das Prekariat samt seinem Nachwuchs bereits völlig abgeschrieben hat. Der Spielraum bürgerlicher Politik in Deutschland liegt exakt zwischen den Positionen von der Leyens und Westerwelles.
Darüber hinaus steht die Regierung vor dem Problem, wie man diejenigen bei Laune hält, die  potentielle Bezieher von Hartz IV sind, die also noch in Lohn und Brot stehen, aber vielleicht schon ahnen, dass ihr Abstieg auch nicht mehr allzu fern sein könnte? Indem man – wie etwa Westerwelle – die Grenze zwischen ihnen und den bereits Abgestiegenen besonders scharf zieht, sie zu »Leistungsträgern« erklärt und die anderen zu Schmarotzern.
Das ist der Zwiespalt hiesiger Sozialpolitik. Westerwelle mag als Radikaler hingestellt werden, aber was er sagt, haben in den letzten zehn Jahren unter wohlwollender Beachtung der Medienöffentlichkeit die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, der konservativ-wirtschaftsliberale Flügel der CDU, aber auch der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder propagiert. Westerwelle wird aufgefallen sein, dass der Platz in der Sozialpolitik, den er gerade so stolz und selbstbewusst antritt, seit einiger Zeit verwaist ist. Das bietet ihm die Gelegenheit zur Profilierung gegenüber Merkel, die in dem Ruf steht, sich am Konsens zu orientieren.

Für Linke ist der Vorgang recht anschaulich. Nicht in dem Sinne, dass sich in der Person Westerwelles der x-te Durchmarsch des Neoliberalismus ankündigt. Vielmehr ist der Staat sich selbst unsicher, wie er mit den Abgehängten umzugehen gedenkt – repressiv oder »konstruktiv«? Die Situation ist durchaus offen, die Regierung wartet ab, sie testet das mögliche Widerstands­potential in der Bevölkerung. Diese Unentschiedenheit bietet zahlreiche Chancen der Gegenwehr von unten, denn es ist längst nicht ausgemacht, ob die Obrigkeit im Falle von Widerstand auf verschärfte Sanktionen setzt. Letztlich muss man das Treiben Westerwelles so verstehen, dass hier jemand einer möglicherweise realen Situation von sozialen Kämpfen im Land zuvorkommen will. Ob dieses Tun gestoppt werden kann, hängt nicht so sehr von einem Machtwort der Kanzlerin ab, sondern tatsächlich von den Kämpfen der Menschen, vor denen Westerwelle so eine Abscheu hat.