Ein Flüchtling klagt gegen die Residenzpflicht

Gefängnis im Kopf

In Deutschland unterliegen Asylbewerber der Residenzpflicht. Ohne eine Genehmigung der Ausländerbehörde dürfen sie ihren Landkreis nicht verlassen. In elf Bundesländern gibt es Landkreise, die in einem solchen Fall Gebühren verlangen. Ein togolesischer Flüchtlingsaktivist hat dagegen geklagt.

Der Gerichtssaal des Verwaltungsgerichts in Halle war voll besetzt. Die Regelung, dass sich jeweils vier Zuschauer mit den draußen Wartenden abwechseln sollten, gab der Gerichtsbeamte, der für den Einlass zuständig war, bald auf. Mehr als 30 Aktivisten und Aktivistinnen aus Berlin, Halle und dem Umland, die sich gegen die Residenzpflicht engagieren, waren am Freitag vergangener Woche zur Urteilsverkündung gekommen.
Nur der Platz des Beklagten, der Ausländerbehörde, blieb leer. »Das ist eine Taktik der Ausländerbehörde. Wenn sie sich schuldig fühlen, machen sie so etwas.« So interpretierte der Kläger Komi E. das Fehlen der Behördenvertreter. Der Vizepräsident der Flüchtlingsinitiative Togo Action Plus hatte im Jahr 2007 die Ausländerbehörde in Merseburg verklagt. Die Residenzpflicht verbot ihm, ohne behördliche Genehmigung den Saalekreis, also das Umland der Stadt Halle, zu verlassen.
»Die Ausländerbehörde wollte immer zehn Euro von uns haben, wenn wir den Landkreis verlassen. Und dann habe ich die Nase voll gehabt und geklagt«, erzählt Komi E. im Gespräch mit der Jungle World. Darüber hinaus schickte ihm die Behörde einen Bescheid, in dem er für eine Fahrt zur togolesischen Botschaft und die Beschaffung eines Passes zu einer Erstattung von Kosten aufgefordert wurde, die sich auf über 1 165 Euro beliefen. Diese Forderung hatte jedoch keine Grundlage und wurde von der Behörde noch vor der Verhandlung fallen gelassen.

Wenn geduldete Ausländer ihren Landkreis verlassen möchten, müssen sie dafür keine Gebühr bezahlen. Das entschied das Verwaltungsgericht in Halle. Der Vorsitzende Richter Bernd Harms erklärte Gebühren für das Erteilen einer Verlassenserlaubnis für unzulässig: »Wenn die Behörden nach Gusto Bescheinigungen für die Verlassenserlaubnis ausstellen und damit durch die Hintertür eine Gebührenpflicht auferlegen, dann verstößt das gegen den Grundsatz der Bestimmtheit.« Diesem zufolge müssen Verwaltungsakte hinreichend bestimmt und begrenzt sein, so dass das Handeln der Verwaltung für die Bürger voraussehbar und berechenbar ist.
In seiner Urteilsbegründung berief sich Harms auf eine Entscheidung des Dessauer Verwaltungsgerichts aus dem Jahr 2006, der zufolge Menschen, die Gelder aus dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten und am Existenzminimum leben, nicht mit einer zusätzlichen Gebühr belastet werden dürfen. Darüber hinaus stellte das Verfassungsgericht in Halle fest, dass es für solche Gebühren keine gesetzliche Grundlage gibt.
Der Widerspruch von Flüchtlingen gegen verhängte Strafgelder wegen unerlaubten Verlassens ihres Landkreises wurde bisher stets abgewiesen. Insofern stellt das Urteil des Verwaltungsgerichts in Halle einen Präzedenzfall dar. Für die Arbeit der Flüchtlingsinitiativen Togo Action Plus, No Lager Halle, Karawane, The Voice und für das Engagement gegen die Residenzpflicht von Aktivisten in Sachsen- Anhalt, Brandenburg, Berlin und Hamburg, ist das ein wichtiger Erfolg. »Dies ist ein Präzedenzfall im Kampf gegen strukturellen Rassismus. Wir hoffen, dass die Ausländerbehörde in Merseburg in Zukunft keine Gebühren mehr von den Flüchtlingen verlangt«, sagt Anett Zeidler von der Initiative Togo Action Plus nach der Urteilsverkündung.

Zu einer Diskussion über die Zulässigkeit, die Bewegungsfreiheit von Ausländern einzuschränken, kam es nicht. »Das ist der maximale Sieg. Mehr war nicht zu holen. Das Thema Residenzpflicht an sich wäre nur dann Gegenstand der Verhandlung geworden, wenn der Gesetzgeber gesagt hätte, der Gebührentatbestand ist einschlägig. Dann hätte man verfassungsrechtlich argumentieren müssen.« So kommentierte Volker Gerloff, der Rechtsanwalt von Komi E., das Urteil. Komi E. hatte bei seiner Klage argumentiert, die Residenzpflicht schränke sein natürliches Recht auf Bewegungsfreiheit und die Entfaltung seiner Persönlichkeit ein, sie verstoße gegen den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen und die Menschenwürde. Die Anwendung der Residenzpflicht zerstöre in einem schrittweisen Prozess die Persönlichkeit und die Individualität jedes Betroffenen. »Wir Afrikaner werden mehr kontrolliert, sobald sie unsere Hautfarbe sehen, und die Leute, die die Kontrolle miterleben, sehen uns deswegen als kriminell an. Es gibt kaum die Chance, Kontakte zu bekommen. Es ist so abschreckend, wie wir behandelt werden. Der Afrikaner, der den Bahnhof betritt, macht sich schon verdächtig. Die Residenzpflicht negiert jeden Gedanken von Integration.« Bei seiner Argumentation gegen die Residenzpflicht stellte Komi E. auch einen historischen Bezug zur deutschen Kolonialisierung in Togo her. Der togolesischen Bevölkerung war es in dieser Zeit nicht erlaubt, ihr jeweiliges Dorf oder Gebiet ohne eine kostenpflichtige Sondergenehmigung der deutschen Kolonialbehörden zu verlassen.
Wegen der in Deutschland bestehenden Residenzpflicht ist es für Flüchtlinge nahezu unmöglich, sich zu organisieren. Die Teilnahme an Vorbereitungstreffen und Veranstaltungen oder kulturellen Aktivitäten, das Treffen mit Freunden, oder der Besuch von Mitaktivisten, die im Abschiebegefängnis sitzen, bergen nicht nur das Risiko einer Kontrolle, sondern auch der Strafverfolgung.

Die Residenzpflicht ist in Europa einzigartig. Nach der Gerichtsverhandlung sagte Rechtsanwalt Gerloff der Jungle World: »Die Residenzpflicht ist rassistisch, weil eine bestimmte Bevölkerungsgruppe isoliert und benachteiligt wird und zwar nur auf Basis der Definition dieser Gruppe. Das ist ganz klar ein rassistisches Gesetz.« In der Stadt Halle fand nach der Urteilsverkündung eine Demonstration statt. Viele Bürger schauten verwirrt auf die Banner der Aktivisten, auf denen »Residenzpflicht abschaffen« stand. »Was ist das denn überhaupt, Residenzpflicht?« fragte eine älterer Mann seine Frau. Das Asylbewerber in Deutschland der Residenzpflicht unterliegen, scheint vielen nicht bewusst zu sein. Das Engagement gegen dieses Gesetz wird dadurch erschwert. Die vollständige Abschaffung der Residenzpflicht scheint auf politischer Ebene derzeit unwahrscheinlich.
In Berlin und Brandenburg sind etwa 11 000 Menschen davon betroffen. Der Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD) bekräftigte am 22. Februar bei einer Anhörung im Innenausschuss zwar, er wolle die Flüchtlinge nicht unnötig einschränken, dennoch sprach er von »juristischen Bedenken bei der Verwaltungsvereinbarung der beiden Länder«. Georg Claaßen, Sprecher des Flüchtlingsrats Berlin, kritisierte ihn dafür: »Körting versteckt sich hinter bürokratischen Einwänden.« Der Kameruner Nartial Chedjou kommentierte nach der Anhörung im Berliner Abgeordnetenhaus, die Residenzpflicht sei wie ein Gefängnis im Kopf. Ständig habe er Angst, von der Polizei kontrolliert zu werden. »Wenn der politische Wille da wäre, könnte die Residenzpflicht sofort abgeschafft werden. Aber er ist nicht da«, meint Volker Gerloff, der Rechtsanwalt des togolesischen Aktivisten.