Ein Kongress über queerfeministische Ökonomiekritik in Berlin

Queer ist prekär!

»Who Cares?« Feministinnen und queere Aktivisten und Aktivistinnen diskutierten in Berlin über Queerfeminismus und Ökonomiekritik.

Wie bringt man die Wirtschaftskrise, die gegenwärtigen Arbeitsbedingungen und eine queerfeministische Kritik daran zusammen? Eine Veranstaltung in Berlin stellte sich kurz vor dem internationalen Frauentag den Fragen um das Verhältnis zwischen Ökonomie und Geschlecht in der neoliberalen Gesellschaft. Dabei wurde versucht, die soziale und ökonomische Realität in Deutschland, mit Hartz IV und der neoliberalen Steuer- und Familienpolitik, im Hinblick auf geschlechtlich segmentierte Arbeitsbedingungen zu betrachten.

Der Titel des Events »Who Cares? Queerfeminismus und Ökonomiekritik« machte deutlich, dass es hier nicht nur um Erwerbsarbeit ging, sondern auch um die Reproduktionssphäre. Wenn es um Ökonomie, Produktion und Reproduktion geht, kommt man an Marx nicht vorbei. »Taking Care of Grandfather Marx«, so nannte sich eine Podiumsdiskussion am ersten Abend, bei der das Verhältnis zwischen linkem Feminismus und Marx’scher Gesellschaftskritik das Thema war. Bereits zu Beginn wurde deutlich: Die Zeiten haben sich geändert, die Fragen nicht. Über Reproduktionsverhältnisse im 21. Jahrhundert sollte diskutiert werden. Ohne Erklärung des Reproduktionsbegriffs ging das natürlich nicht. Dafür war Max Henninger, der einzige Mann auf dem Podium zuständig, Marx’sche Theorie ist ja bekanntlich Männersache. Der Titel klang postmodern, mit einer Marx-Lektüre hatten offenbar die wenigsten Besucher gerechnet. Nach der Erklärung der Marx’schen These, wonach die Monetarisierung der Reproduktionsarbeit den Wert der Ware Arbeitskraft sinken lässt, fragte man sich: Was hat das mit Queerfeminismus zu tun?

Schließlich hatte sich schon die feministische Bewegung in den siebziger und achtziger Jahren mit den »Leerstellen am Marx’schen Wertbegriff« beschäftigt, die auch an diesem Abend im Mittelpunkt der Debatte standen. Schon sie hatten versucht, »eine Kritik der politischen Ökonomie zu formulieren, die eine feministische Perspektive einbeziehen sollte«, wie Referentin Felicita ­Reuschling betont. Und war die Debatte in den neunziger Jahren durch die Begriffe queer, immaterielle und affektive Arbeit nicht schon weitergekommen? Beschreiben nicht diese Begriffe die Umstrukturierungen des Produktionsprozesses im postfordistischen, neoliberalen Zeitalter besser als das bipolare Konzept von Produktion und Reproduktion?
Nein, man schien hier offensichtlich »back to the roots« gehen zu wollen. Ganz bewusst habe man auf Grandfather Marx zurückgreifen wollen, erklärt Lisa Haller, eine der Organisatorinnen: »Butler kann ich nicht mehr hören.« Vielleicht ist dieser Überdruss auch darauf zurückzuführen, dass man mit poststrukturalistischer Theorie zwar die Fixierungen auf Heteronormativität in der deutschen Einkommens- und Steuerpolitik analysieren kann, aber deren konkrete Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt sich weiterhin ganz gut mit den Begriffen von Klasse und Geschlecht analysieren lassen.
Seit 1958 gibt es in Deutschland das Ehegattensplitting, mit dieser Regelung wird die Ehe als zentrales Element einer konservativen Wohlfahrtspolitik gesetzt. Finanziell profitieren davon diejenigen Lebensgemeinschaften, in denen es nur einen Verdiener gibt. Und der Alleinverdiener, der über ein besonders hohes Einkommen verfügt, wird mit diesem Modell besonders stark entlastet. Eingetragene Lebenspartnerschaften können diesen steuerlichen Vorteil nicht nutzen. Mit dem Einkommenssteuerrecht werden also heteronormative Geschlechterverhältnisse festgeschrieben, die angesichts hoher Scheidungsraten und sinkender Löhne und Gehälter nur wenig mit der aktuellen Lebensrealität gemein haben. Mit den Geschlechterverhältnissen im Einkommenssteuerrecht beschäftigte sich auch ein Workshop des Events. Die Juristin Maria Wersig konzentrierte sich dabei auf das Zusammenwirken des Ehegattensplittings mit der Lohnsteuerklasse V. In Deutschland befinden sich 94 Prozent der verheirateten erwerbstätigen Frauen in dieser Steuerklasse. Ihr Einkommen wird überproportional besteuert, dieser Nachteil wird zwar beim Lohnsteuerjahresausgleich am Ende des Jahres beglichen, aber bei der monatlichen Gehaltsabrechnung fällt der Verdienst erst einmal entsprechend gering aus. Die Referentin betonte den »psychologischen Effekt« dieser Regelungen, bei denen Frauen die Rolle der Hinzuverdienenden zugewiesen wird. Deutschland galt lange als wohlfahrtsstaatlicher Vertreter eines starken Familien­ernährermodells, mit einer klar definierten geschlechtlichen Rollenverteilung innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie.

Im 21. Jahrhundert sieht das anders aus, heute ist das neoliberale Konzept der Eigenverantwortung vorherrschend, bei dem jeder Einzelne durch Erwerbsarbeit für die eigene Existenzsicherung verantwortlich ist. Und diese neoliberale Ordnung spiegelt sich nicht nur in den Hartz-IV-Gesetzen, sondern auch in der »neuen Familienpolitik«, bei der es vorrangig um wirtschaftliche Interessen geht. Die Reproduktionsarbeit wird dabei weiterhin als Teil der Privatsphäre gewertet. »Die Erwerbstätigkeit von Frauen ist prekär realisiert worden«, so lautete die Schlussfolgerung von Karin Zennig, die an der Marburger Universität zu den konkreten Auswirkungen familienpolitischer Maßnahmen forscht. Für Frauen hat sich in den vergangenen Jahren ein weiterer Niedriglohnsektor etabliert, der Staat sieht vor, dass zukünftig 30 Prozent der Kinderbetreuung durch Tagesmütter realisiert werden. Zennig weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass mit diesem Modell auch geschlechtsspezifische Klassenunterschiede festgeschrieben werden, wenn gut situierte Frauen, häufig auch aus dem alternativen Milieu, ärmere Frauen und häufig Migrantinnen zu Billiglöhnen mit der Betreuung ihrer Kinder beauftragen.

Von einem »Outsourcing von Reproduktionsarbeit von reichen Frauen zu armen Frauen«, wodurch heteronormative Rollenmuster verstärkt werden, sprach auch Volker Woltersdorff in seinem Vortrag »Queethoretische Perspektiven auf Prekarisierung«. Im neoliberalen Umbau des Sozialstaats durch Hartz IV sieht er das Paradox einer Verfestigung und gleichzeitiger Flexibilisierung der Geschlechterverhältnisse. Den Begriff queer nutzte er nicht, um einen Minderheitendiskurs zu führen, sondern stellte eine Verbindung zwischen »queer« und »prekär« her. Prekarisierung wurde dabei als ambivalenter Begriff betrachtet, der es ermöglich, »Heteronormalitäten anzugreifen«. Als »prekär« wurden Arbeitsverhältnisse bezeichnet, die von dem klassischen weißen, männlichen und heteronormativ geprägten Ernährermodell abweichen. Im postfordistischen Zeitalter ist das Ideal einer lebenslangen Festanstellung durch Anforderungen wie Flexibilität, Mobilität und ständige Weiterbildung ersetzt worden. Die Dekonstruktion ehemals stabiler Identitäten, die durch die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse erfolgt, betrifft auch Geschlecht und Sexualität und stellt traditionelle Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit infrage. Man kann von einer neoliberalen Deregulierung von Heteronormativitäten sprechen.
Wie eine queere Ökonomiekritik aussehen könnte, wurde auch hier nicht diskutiert. Aber zumindest wurde eine Perspektive für eine queere Politik eröffnet, die geschlechtliche Minderheiten oder, wie Woltersdorff sagte, »nicht heterokonforme geschlechtliche Identitäten« nicht pauschal als Verlierer der ökonomischen Transformationsprozesse sieht.