»Der Omega-Punkt« von Don De Lillo

Ausgelöschte Zeit

Mit »Der Omega-Punkt« hat Don DeLillo einen kurzen und rätselhaften Roman geschrieben.

Don DeLillo ist spätestens seit dem Erscheinen seines wuchtigen Episodenromans »Unterwelt« (1997) auch hierzulande ein Begriff. Man muss diesen Autor, der neben William Gaddis und Thomas Pynchon zu den großen Postmodernen der amerikanischen Literatur zählt, nicht noch einmal vorstellen. Ein kurzer Blick zurück, anlässlich seines neuen Romans »Der Omega-Punkt«, kann trotzdem nicht schaden.
In »Unterwelt« geht es um die Geburt der amerikanischen Kultur aus dem Kalten Krieg, um ihre Entstehung aus dem Geist der Gewalt. »Alles fällt unauslöschlich in die Vergangenheit«, schreibt DeLillo gleich im ersten Kapitel und meint damit nicht zuletzt das Durchdrungen-Sein Amerikas von historischen Ereignissen.
»Der Omega-Punkt« nun ist ein kaum mehr als 100 Seiten umfassendes Drei-Personen-Stück. Ein Roman als Kammerspiel im Freien gewissermaßen. Es wird viel gesprochen, geschwiegen, geschaut. Die Beobachtungen bleiben oft flüchtig, fragmentarisch, vieles bleibt rätselhaft. Wie in »Unterwelt« geht es auch hier um die Verknüpfung von Augenblicken. Allerdings handelt es sich nicht mehr um Ereignisse historischen Ausmaßes – in »Unterwelt« etwa die Zündung der Atombombe durch die Sowjetunion. Steckt in den »Unterwelt«-Erzählungen von der Atombombe, vom Kalten Krieg, vom Aufbau des amerikanischen Paranoia-Staats durch J. Edgar Hoover die Sorge um die Zukunft, so handelt »Der Omega-Punkt« vom Wunsch, ans Ende menschlicher Geschichte zu gelangen. Ausgelöscht zu sein, ein für allemal.
Da ist der dreiundsiebzigjährige Gelehrte Richard Elster, wohnhaft »südlich von Nirgendwo«, irgendwo in der Wüste in einem langsam verrottenden Haus. Was er einmal gelehrt hat, wissen wir nicht. Elster hat sich in die Leere der Wüste zurückgezogen, um für sich zu sein, um über das Leben nachzusinnen und über die Zeit zu meditieren. Ein spiritueller Rückzug. Er sagt: »Jeder verlorene Augenblick ist das Leben.« Elster hadert mit der Vorstellung, das Leben nicht zu fassen zu bekommen. Es ist ein starkes metaphysisches Hadern. Kein Wunder, dass er die Wüste liebt: »Die Zeit verlangsamt sich, wenn ich hier bin. Die Zeit wird blind. (…) Ich werde nicht alt hier.« Blinde Zeit – DeLillo gelingt es mit Metaphern derart lakonischer Evidenz tatsächlich, die subjektive Relativität der Zeit in Poesie zu verwandeln. Die Zeit, das wird rasch klar, ist mehr als alles andere ein Gefühl der Protagonisten. Ein Problem mithin. Und ihre Obsession.
Abstrahiert vom eigenen Leben, von der voranschreitenden Existenz, kann Elster sich in der Wüste umso besser mit seinem Lieblingsthema befassen: dem Zusammenhang von Evolution und Auslöschung. Jim Finley, ein junger Möchtegern-Filmemacher und Ich-Erzähler des Romans, wird sich einiges darüber anhören müssen. Finley ist Elsters Besucher, er will unbedingt eine Dokumentation über Elster drehen – kein Schnitt, eine Einstellung. »Nur ein Mann und eine Wand.« »Alle Pausen sind Pausen, ich drehe weiter.« Es ist eine dieser Stellen im Buch, an der ein Schmunzeln erlaubt, vielleicht sogar erwünscht ist. Denn die Emphase, mit der Finley seinen Wunsch an Elster heranträgt, hat angesichts der Angestaubtheit seiner Idee durchaus etwas Rührendes.
Finley ist ein sensibler Beobachter, ein höflicher und aufmerksamer Gesprächspartner, der sich bald selbst in der Weite der Wüste verliert, ohne jemals seinen Film zu drehen. Ein Sinnsucher auch er. Elster ist freilich die interessantere Figur. Er, ein konservativer Liebhaber der Macht, hat zwei Jahre für die Bush-Regierung gearbeitet. Er sollte ihrem kriegerischen Treiben im Irak einen intellektuellen, metaphysischen Überbau geben. Anscheinend ist er gescheitert. Möglicherweise war er den Bush-Bürokraten nicht gewachsen. Vielleicht hat man auch seine Ideen nicht verstanden, die des Haiku-Krieges zum Beispiel: »Ich wollte einen Krieg in drei Zeilen. Das hing nicht von der Truppenstärke oder der Logistik ab. Ich wollte einen Satz Gedanken, geknüpft an flüchtige Dinge. Das ist die Seele des Haikus. Entblöße alles bis zur Offenkundigkeit. Erkenne, was da ist. Im Krieg sind die Dinge flüchtig. Erkenne, was da ist, und sei bereit, es verschwinden zu sehen.«
Nicht weniger streitbar und mit dem reichlich kryptischen Haiku-Krieg verwandt ist Elsters Idee »vom Sprung aus unserer Biologie hinaus«. Die Idee des Theologen und Evolutionstheo­retikers Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955), alles Leben würde am höchsten Punkt seiner evolutionären Ausdifferenzierung und Organisation – dem Omega-Punkt – mit Gott verschmelzen, hat er zu seinen eigenen Bedingungen verändert. Elster predigt, das menschliche Bewusstsein habe sich erschöpft, es sei an der Zeit für eine radikale Veränderung: eine Auslöschung des Bewusstseins, unsere Verwandlung zu Steinen auf dem Feld. Das ist Elsters Vorstellung vom Omega-Punkt. Eine Art gottloses Glaubensbekenntnis im Angesicht des nahenden Todes? Erlösung durch die große Auslöschung? Wissen kann man es nicht. DeLillo schweigt sich über diese Figur, im Grunde über alle seine Figuren, so weit aus, wie es die Romankonstruktion zulässt, ohne zu zerfallen. Die Leerstellen erzeugen derweil allerlei Bedeutungen. Kopfgeburten? Vielleicht.
Dem Gehedder seltsamer Gedanken zu entfliehen, hilft uns Elsters Tochter Jessie, die ihren Vater besucht. Sie ist das »Traumobjekt« Elsters, seine große Liebe und schmale Brücke zum sozialen Leben. Wirklich nahe kommt er diesem Wesen, dieser eigensinnig klugen, doch stets wie durchsichtig scheinenden und ganz in ihrer Welt lebenden Mittzwanzigerin nicht. Vielleicht ist er zu sehr mit sich beschäftigt, zu egoistisch blind in seiner Liebe? Auch Finley kommt ihr nicht nahe. Gleichwohl hat er sich in sie verliebt, schaut ihr heimlich zu beim Schlafen. Wirklich nahe kommt hier keiner dem anderen. Man findet sich sympathisch – redet und huscht aber permanent aneinander vorbei. Flüchtige Momente, flüchtige Zeit. Das ist traurig, weil da mehr sein könnte, mehr sein sollte: »Jeder verlorene Augenblick ist das Leben.«
Dass DeLillo Jessica am Ende in die Wüste schickt, wahrscheinlich in den Freitod, ohne Andeutung, ohne ein Wort des Abschieds von ihr, lädt den subtilen Plot noch einmal mit einer Spannung auf, die in ihrer undurchdringlichen Rätselhaftigkeit düsterer kaum sein könnte. Die Unerträglichkeit der ungewissen Gewissheit zerrt an Finley, sehr viel stärker jedoch an Elster. Wir schauen dabei zu, wie er erlischt, wie sich seine Lebenszeit offenbar rapide verkürzt: »Allmählich ähnelte er einer Röntgenaufnahme, nur noch Augen und Zähne.« Elster löst sich auf, das Rätsel um die Tochter bleibt.
Gerahmt wird dieser dichte, bemerkenswert klug komponierte Roman von einem Prolog und einem Epilog. Ein anonymer Mann lehnt in einem dunklen Raum an einer Wand und schaut sich Douglas Gordons Installation »24 Hour Psycho« an. Schaut sich an, wie Hitchcocks Filmklassiker tonlos und mit großer Langsamkeit aufgeführt wird. Er schaut Stunde um Stunde, Tag um Tag. Was er zu sehen meint, ist »die reine Zeit«. Niemand beachtet ihn. Er lebt auf einer »radikal veränderten Zeitschiene«. Er verliert die Vorstellung davon, wie er in den Augen anderer aussehen könnte. Das fremde Zeitschema saugt sein eigenes auf. Er wartet darauf, sich in der Figur von Norman Bates aufzulösen.

Don DeLillo: Der Omega-Punkt. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 112 Seiten, 16,95 Euro