»Von ›Get Back‹ zu ›Let it Be‹« von Friedhelm Rathjen

Bevor Yoko kam

Friedhelm Rathjen erzählt haargenau die letzten Tage der Beatles nach.

Es gibt einen Unterschied zwischen Popmusik und dem, was Musikwissenschaftler »Kunstmusik« nennen: Pop bereitet weniger Mühe, und zwar dem Produzenten wie dem Rezipienten. Gitarrenbands, Elektrobastler, Rapper gibt’s in jeder Sackgasse, Rachmaninoff-Interpreten nicht. Diese spezifische Laxheit im Umgang mit dem musikalischen Material überträgt sich leider oft auch auf das Sprechen über Popmusik. Wo immer Pop das Thema eines Textes ist, kommt der Autor stilistisch gern im Hawaiihemd: Zerebral zu relaxen, gehört besonders in der musikalischen Fachpresse zu den Mitteln jedes Berufspoppers. Bewertung geht vor Beschreibung, praktische (Konsum-)Orientierung verdrängt theoretische Perspektiven. Zugleich haben die Heroen der Massenkultur zumindest im deutschsprachigen Raum kaum je in den wissenschaftlichen Diskurs hineingefunden; lediglich Bob Dylan und die Beatles – die beiden einzigen Exponenten der Popmusik, zu denen (und zwar erst 2009) ein »Cambridge Companion« erschienen ist – finden mehr als partikulare Beachtung in der Musikwissenschaft. Präzise Sprache und Pop, scheinen in Deutschland auch heute noch nur gegen den Trend vereinbar.
Mit dem im Dezember erschienen Opus »Von ›Get Back‹ zu ›Let It Be‹. Der Anfang vom Ende der Beatles« stemmt sich der Literaturwissenschaftler und Übersetzer Friedhelm Rathjen gegen diesen Trend. Denn Rathjen hat sich mit historiografischem Eifer an die vorletzten Aufnahmesessions der noch immer erfolgreichsten Band der Popgeschichte gemacht und ein protokollarisches Buch von wohltuender Ernsthaftigkeit geschrieben. Im Großen und Ganzen handelt es sich dabei lediglich um eine zusammenfassende Transkription dessen, was man im Januar 1969 bei den Proben der Beatles zu hören und zu sehen bekam, während nur im ersten und letzten Kapitel gerafft beschrieben wird, was diesen Sessions in der Geschichte der Vier vorangegangen war beziehungsweise folgen sollte. Kurz: Rathjen hat ein 330 Seiten starkes Buch über 20 Aufnahmetage geschrieben.
Warum?
Seit die Beatles 1966 in San Francisco ihr letztes öffentliches Konzert gegeben und sich damit von der kommenden Festivalkultur abgeschnitten hatten, ging die Jungenfreundschaft der umhertourenden Pilzköpfe bald in einen losen Zusammenhalt erwachsener Superstars über, die sich in sehr verschiedene Richtungen entwickelten. Ihr in dieser Phase entstandenes »White Album«, das nur noch unter Reibereien und teilweise von einzelnen Bandmitgliedern alleine aufgenommen worden ist, ist ein musikalisches Zeugnis dieser zerfallenden Einheit. Um dem entgegenzuwirken, initiiert Paul McCartney, noch immer der motivierteste Beatle, 1969 ein Projekt, das den Freundschaftsgeist alter Tage wiederbeleben soll: ein spektakuläres Livekonzert, das mit den vorbereitenden Proben in einem Film dokumentiert werden soll. Obwohl diese Idee bei den anderen nicht gut ankommt und im Zuge weiterer Streitigkeiten modifiziert werden muss – als George Harrison vorübergehend aus der Band aussteigt, einigt man sich auf ein neues Album als Ziel der Sessions –, entsteht doch der Film. Er erscheint 1970 unter dem Titel »Let It Be«, zusammen mit dem gleichnamigen Album, dessen Produktion er zeigt, und ist heute offiziell nicht mehr erhältlich, weil die noch lebenden Beatles die Verbreitung gestoppt haben.
Rathjen, der für sein Protokoll 130 Stunden Film- und Tonmaterial gesichtet hat, das für »Let It Be« aufgenommen worden ist und seither als Bootleg kursiert, will mit seiner Quellenstudie jenen »Halbwahrheiten« begegnen, die der als Dokumentation vermarktete, tatsächlich aber verzerrende Zusammenschnitt unter Fans und Fachleuten verbreitet habe. Denn wer, so Rathjen, hat angesichts der Materialmenge schon so viel »masochistisches Durchhaltevermögen«, selbst zu überprüfen, ob Paul McCartney die Beatles in die Trennung getrieben hat, wie es der Film vermuten lasse? »Wenigstens einmal aber soll die ganze Geschichte erzählt werden, wie sie sich zugetragen hat, bis in die Einzelheiten.« Soll sie wirklich?
Keine Frage: Rathjens durchweg kompetente und stilsichere Raffung des Probeneinerleis, seine sachliche Kommentierung und seine Fähigkeit, die mitunter schwer fassbaren Gefühlslagen der Protagonisten zu vermitteln, lassen dieses ungewöhnliche Buch gelingen. Auch offenbart der Schlüssellochblick auf »die bedeutendste Band der sechziger Jahre« (Rathjen) nicht nur Nebensächliches. Denn man erfährt ja nicht nur etwas über Ringos Flugangst, Harrisons Dylan-Verehrung, Lennons Heroinkonsum und McCartneys Autorität, sondern auch einiges über die Arbeitsweise der Beatles, ihre künstlerischen Ziele, ihre Selbstwahrnehmung, ihren kulturellen Hintergrund, ihre beschränkten instrumentalen Fertigkeiten – und damit etwas über Popmusik überhaupt, aus der Perspektive ihres Zentrums. Denn zu jener Zeit hatten die Beatles längst ihren Wandel vollzogen von den generationenverbindenden Publikumslieblingen zu seltsam gekleideten, indien- und drogenerfahrenen Leitfiguren der Gegenkultur, die plötzlich politische Statements abgaben und in der Avantgarde-Kunst mitmischen wollten. Sie hatten allerspätestens mit »Sgt. Pepper« entscheidend zur Aufwertung der Popmusik von der Unterhaltung zur Kunst beigetragen und waren nun nicht mehr nur kommerziell die erfolgreichste Band dieser Ära, sondern auch die künstlerisch und gesellschaftlich einflussreichste.
Im Zentrum des Orkans aber konnte verblüffende kreative Windstille herrschen. Die meiste Zeit nämlich erscheinen die Beatles hier als ziellose, überforderte, vorwiegend herumalbernde Eigenbrötler, die unter dem Einfluss diverser Substanzen und mit bescheidener technischer Ausstattung alte Rock’n’Roll-Nummern scheppern, um ihre Langeweile zu überbrücken. Als Ringos Freund Peter Sellers in ihre Sessions platzt und über die herrschende Wirrheit ähnlich verwundert ist wie der Leser, fasst McCartney diesen Eindruck prägnant zusammen: »Wir sitzen hier eigentlich nur rum und erlauben uns, in Verlegenheit zu sein. Und wir unterziehen uns der Tortur, dabei gefilmt zu werden.« Dass den Beatles dann trotzdem wie aus dem Nichts perfekte Takes ihrer auch diesmal überragenden Songs gelingen, ist wohl zur Hälfte, wie Rathjen schreibt, einem spontanen »Wunder« zu verdanken und zur andern Hälfte Paul McCartney, der sich hier als die treibende und ordnende Kraft, als produktivster Songschreiber und bei weitem fähigster Instrumentalist der Band erweist.
Nicht selten hat übrigens auch die Konversation der Beatles und ihrer Entourage mitteilenswerte Qualität. Etwa wenn McCartneys Freundin Linda von einem geschäftlichen Treffen am Vortag berichtet, John Lennon habe »prächtig« ausgesehen. Der anwesende Regisseur Michael Lindsay-Hogg fragt daraufhin erstaunt: »Was hatte er an?« McCartneys Antwort: »Eine berühmte japanische Schauspielerin.«
Doch allen amüsanten und erhellenden Passagen zum Trotz bleibt Rathjen schließlich die Antwort darauf, warum er allein diesen Sessions ein so umfangreiches Buch gewidmet hat, schuldig. War es wirklich nötig, jeden dieser 20 Probetage detailliert darzustellen, nur um verzerrende Gerüchte über Streitigkeiten der vier Musiker aufzuklären? Freilich sind sein historiografisches Ethos und sein Bemühen um Wahrheit und Genauigkeit lobenswert, gerade auf dem Gebiet des Pop, wo solche Tugenden selten sind – aber steht dieses Verfahren hier noch in Relation zum Gegenstand? Ist es für unsere Kenntnis der Welt, der Popmusik oder auch nur der Beatles relevant, dass jeder Dylan-Song, den George Harrison anspielt, mit seiner genauen Dauer vermerkt wird? Und verlangen es die dokumentarischen und publizistischen Ziele des Autors, mehrmals zu erwähnen, dass Ringo Starr bei seinem Erscheinen im Studio über das Fernsehprogramm plaudert? Hier wandelt sich das Mikroskopische vom Aufklärungsinstrument zur fetischistischen Marotte, zur Sammelwut, und Rathjens Buch damit zu einem Buch für Fans. Mehr will es auch gar nicht sein. Leider.

Friedhelm Rathjen: Von »Get Back« zu »Let It Be«. ­Rogner & Bernhard, Berlin 2009. 338 Seiten, 19,90 Euro