»Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven« von Siri Hustvedt

Die Poesie gespannter Nerven

Siri Hustvedt stellt in ihrem neuen Buch »Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven« ihre eigenen Gebrechen und Ängste dar.

Im Stil der in letzter Zeit zahlreich erscheinenden Bekenntnisbücher bedeckt ein Foto der Autorin den Buchdeckel. Siri Hustvedts neuestes Buch »Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven« ist ein Sachbuch mit autobiografischen und wissenschaftlichen Elementen. Am besten lässt es sich als Langessay mit Literaturangaben beschreiben. Dass Hustvedt, die vor allem für ihre vier Romane bekannt ist, gute Essays schreiben kann, zeigte sie zuletzt mit ihrem Band »Being a Man« (Jungle World 40/06). Auch mit psychiatrischen und neurologischen Themen beschäftigt sie sich schon lange. Neben Bildender Kunst bilden diese die Hauptmotive ihres Werks. ­Hustvedts Faszination dafür hat sich, wie sie schreibt, aus Neugier für ihre eigene neurologische Störung entwickelt, eine Migräne, an der sie seit ihrer Kindheit leidet. Während in ihrem dritten Roman »Was ich liebte« Hys­terie, Essstörungen und die Antisoziale Persönlichkeitsstörung als sich ablösende kulturbedingte Modekrankheiten in eine spannende Geschichte eingewoben sind, wirkt der Nachfolger »Die Leiden eines Amerikaners« von 2008 sehr konstruiert. Vielleicht ist es allein deshalb gut, dass Hustvedt sich jetzt in voller Buchlänge der Materie Neurologie gewidmet hat. Für den letzten Roman hatte sie sich bereits tiefer in das Gebiet der Neuropsychoanalyse, eine Forschungsrichtung, die psychoanalytische Annahmen mit Neurowissenschaften verbindet, eingearbeitet. Kurz nachdem das Buch zur Hälfte fertiggestellt war – Hustvedt braucht ungefähr fünf Jahre pro Roman –, bekam sie den ersten Zitteranfall. Bei einer Gedenkrede zu Ehren ihres verstorbenen Vaters begann ihr Körper plötzlich vom Hals an abwärts stark zu zittern. Sie konnte zwar weiterreden, bemerkte aber später, dass sich ihre Beine rot verfärbt hatten. Diese mysteriösen Zitterkrämpfe sind nun der Ausgangspunkt der Überlegungen ihres neuen Buchs, die um die Verfasstheit von Geist und Gehirn kreisen.
Hustvedt vergleicht ihre Krankheit vor allem mit Hysterie und Epilepsie. Beide Krankheiten wurden im Laufe ihrer langen Geschichte immer wieder neu erklärt und kategorisiert. Während Epilepsie mittlerweile eindeutigen Diagnosemerkmalen unterliegt, wurde Hysterie von ihren Wurzeln getrennt und wird heute als Konversionsstörung bezeichnet, wobei Name und Einordnung regelmäßig wechseln. Auch wenn die theoretischen Ausführungen bei Hustvedts eigener Krankheit beginnen und immer wieder dorthin zurückkommen, gehen sie überwiegend in eine allgemeine Thematisierung über. Es wird schnell klar, dass Hustvedt weder eine Konversionsstörung noch Epilepsie hat. Das persönliche Fazit ihrer Suche ist eine Kombination aus Erklärungen und einer Behandlung, die Neurologie, Psychoanalyse und Medikation einschließt. Auf einen Krankheitsnamen wartet sie nicht mehr. Hustvedt will das Phänomen, das sie zunächst von sich abspaltete, integrieren und es besser kennen lernen, ähnlich wie sie auch mit ihrer Migräne umgegangen ist. Sie denkt, dass sie von Geburt an »schwache Nerven« hat und sich diese neue Krankheit aufgrund besonderer Belastungen oder Verdrängungen ausgebildet hat.
Die Schilderungen ihres eigenen Leidens sind so rational und intellektuell wie ihre Analyse von Fallgeschichten und theoretischen Positionen. Das Thema ist interessant, Hustvedt schreibt gut, und das zusammengetragene Material ist beeindruckend. Trotzdem plätschern die Ausführungen mehr so dahin, als dass sie berühren oder aufrütteln. Das ist aber nicht unbedingt negativ. Hustvedt bezeichnet sich selbst in Anlehnung an William James als »milde Denkerin«. Der Begründer des Fachbereichs Psychologie an amerikanischen Universitäten und große Bruder von Henry James unterscheidet zwischen sturen und milden Philosophen. Die sturen folgen einer strengen Logik und unterteilen strikt in wahr und falsch, wohingegen milde Denker menschliche Erfahrung und Gefühle berücksichtigen. Hustvedt nimmt keine eindeutige Position ein, glaubt sowohl an Biologie als auch an Sozialen Konstruktivismus und relativiert beide Modelle wieder.
Auf diese Weise wird deutlich, wie komplex das Zusammenspiel von Geist, Gehirn und Kultur ist. Dabei kritisiert sie die Trennung in Neurologie und Psychiatrie und stellt die Betrachtungsweise von Krankheiten in Frage: »Wie die Wahrheit auch aussehen mag, die Hochs und Tiefs meines eigenen Nervensystems und meine Begegnung mit Ärzten illustrieren die ganze Zweideutigkeit von Krankheit und Diagnose. Die philosophischen Ideen, die ihnen zugrunde gelegt werden, um das eine so und das andere so zu nennen, bleiben oft unüberprüft oder scheinen eher von intellektuellen Moden als von scharfsinnigem Denken bestimmt.« Hustvedt weist an zahlreichen Stellen auf die Grenzen der Hirnforschung hin, wäre aber nicht die »milde Denkerin«, wenn sie die Neurowissenschaften komplett ablehnen würde. Es gibt für sie keine einfachen Antworten, keine festgelegte Richtung im Zusammenspiel von Körper und Geist. Am Beispiel der Schizophrenie führt sie aus, dass die Krankheit, auch für Angehörige, leichter zu ertragen ist, wenn es heißt, mit dem Gehirn sei etwas nicht in Ordnung, statt dass jemand verrückt sei. »Organische Erkrankung des Gehirns« klinge im derzeitigen kulturellen Klima irgendwie beruhigend. Der sichtbare Unterschied im Gehirn eines Manisch-Depressiven oder einer Schizophrenen liege lediglich in der Gehirnaktivität, und solche Veränderungen entstünden auch bei Traurigkeit, Glück oder sexueller Erregung. So ist es schwer zu sagen, ob erst die veränderte Aktivität da ist oder ob diese nur eine Folge des psychischen Zustands ist.
Hustvedt kritisiert außerdem die Ignoranz älterer Forschung. Wissen nehme entgegen dem permanenten Fortschrittsgedanken nicht immer zu, es gehe auch verloren, und wertvolle Erkenntnisse würden gemeinsam mit offenkundig falschen verworfen. Außerdem wünscht sie, dass mysteriöse geistige Symptome als Bereicherung, als Möglichkeit zu Erfahrung und Erkenntnis gesehen werden. Wie die meisten in ihrer Familie hört sie Stimmen. Manchmal hinge so etwas mit einer Krankheit zusammen, oft aber auch nicht. Wenn man selbst oder Angehörige zu sehr darunter leiden würden, ließe man sich wahrscheinlich klinisch behandeln. »Wenn nicht, können gehobene Stimmungen oder gar Verzückungen und gelegentliches Stimmenhören vielleicht einfach ins Alltagsleben integriert werden oder ihren Weg in die eigene Poesie finden«, ermuntert Hustvedt.
Auch wenn das Buch voller Fachwissen ist, ist es kein Fachbuch. Es ist nicht übersichtlich, nicht in Kapitel aufgeteilt und verfügt über keinen Index. In kurzer Abfolge werden die persönlichen Geschichten mit Fallgeschichten, medizinischen Theorien und literarischen Beispielen kombiniert. Daneben gibt es Ausflüge in andere Disziplinen wie Philosophie und sogar Quantenphysik. Die Beschäftigung mit den pathologischen Symptomen führt zu allgemeinen Betrachtungen über Wahrnehmung, Erinnerung, Sprache und Subjektivität. Trotz des persönlichen Stils entbehrt dieses Buch jeder Peinlichkeit. Gerade die Stellen, an denen es wirklich um Hustvedts eigene Nerven geht, sind unterhaltsam und kommen im Verhältnis zur Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen eher zu kurz.

Siri Hustvedt: Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven. Aus dem amerikanischen Englisch von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt, Hamburg 2010. 236 Seiten, 18,95 Euro