»Queere Tracks« von Doris Leibetseder

Schwule Mädchen

Die Studie »Queere Tracks« verspricht, eine Geschichte queerer Popmusik zu erzählen, verwechselt dabei aber »queer« mit »feministisch«.

Der Buchtitel »Queere Tracks« klingt erst einmal gut, lässt hoffen, dass mit diesem Buch eine Lücke geschlossen wird. Im deutschsprachigen Raum gibt es nämlich noch keine Publikation zur Geschichte queerer Popkultur. Ein solches Buch fehlt, obwohl diese Geschichte weit verzweigt ist und die unterschiedlichsten Präsentationsformen aufweist, von Queen bis Frankie Goes To Hollywood, von Divine bis Phranc, von Team Dresch bis zu Kids On TV. »Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik« nennt Doris Leibetseder ihr Buch im Untertitel. Auch das lässt eine anregende Lektüre erwarten. Gab es zum Beispiel etwas Subversiveres als den Auftritt der Hidden Cameras und ihres schwulen Sängers vor der versammelten Fußballmannschaft von Bayern München, 2007 von Mehmet Scholl in die Wege geleitet? Möglicherweise war der Auftritt sogar so subversiv, dass keinem der Spieler überhaupt auffiel, dass sie an einer queeren Veranstaltung teilnahmen. Die meisten dürften davon erst am nächsten Tag in den Medien erfahren haben. Etwa auf Spiegel online, wo hämisch über »Mehmet Scholls queere Abschieds­party« berichtet wurde.
Die Hidden Cameras sind eine Band mit wechselnder Besetzung, bestehend aus Männern und Frauen, deren Songs nicht nur Heteronormativität, sondern auch schwule Anpassung an heteronormative Strukturen kritisieren. Ihr Song »Ban marriage« von 2003 ist bis heute ein Dauerbrenner in der queeren Indie-Disco und erklärt jegliche Form der Ehe für indiskutabel. Doch die Hidden Cameras kommen in dem Buch »Queere Tracks« nicht vor. Ebenso wenig all jene schwulen Popstars von Culture Club bis Bronski Beat, die zu Beginn der Achtziger dafür gesorgt hatten, dass die Charts für kurze Zeit nicht von Heterosexuellen bestimmt wurden. Über die schwulen Ursprünge von Disco und House steht ebenfalls nichts in diesem Buch, das seine haarsträubende Lückenhaftigkeit, auch durch das Fehlen eines Namensregisters, erst bei genauerem Lesen offenbart. Viele fehlen, so scheint es, weil es Doris Leibetseder ein Anliegen war, ausschließlich auf weibliche Künstler einzugehen – mit Ausnahme des transsexuellen HipHop-Musikers Katastrophe. Eine solche Auswahl ist zwar legitim, trifft aber nicht den Kern dessen, was queeres Denken ausmacht, denn Queerness zielt in erster Linie auf die Loslösung vom biologischen Geschlecht und vom binärgeschlechtlichen Denken, das in »Queere Tracks« weitgehend aufrechterhalten wird. Dass unter den wenigen Musikerinnen, die in dieser mehr als 300 Seiten umfassenden Studie als Beispiele auftauchen, dann auch noch solche ins Zentrum gerückt werden, die gar nicht in queeren Zusammenhängen arbeiten – etwa Suzanne Vega und Björk –, erhärtet den Verdacht, dass hier »queer« mit »feministisch« verwechselt wurde.
Aber wie lassen sich 300 Seiten mit so wenig Anschauungsmaterial bestreiten, dass der Eindruck aufkommt, queerer Pop beschränke sich fast ausschließlich auf Peaches und Madonna? Ganz einfach: »Queere Tracks« ist eine wissenschaftliche Publikation, die ganz in der deutschen Tradition des Referierens steht. Ein Großteil des Buches handelt überhaupt nicht von dem, was der Titel vorgibt, sondern geht etwa auf die Bedeutung der Maske im Werk Nietzsches oder auf Platons Mimesis-Theorie ein. Judith Butler wird noch einmal ebenso ausgiebig wie Susan Sontags »Notes on Camp« vorgestellt. Zwei Drittel dieses Buches bestehen demnach aus zermürbender akademischer Fleißarbeit. Leibetseder führt acht Strategien zur Verqueerung traditioneller Geschlechterrollen vor, denen sie einen historisch-theoretischen Teil mit Begriffserklärungen voranstellt: Ironie, Pa­rodie, Camp, Maske, Mimesis, Cyborg, Transsexualität und Dildo. Erst am Ende jedes Kapitels folgt die Analyse am konkreten Gegenstand.
Die langen Ausführungen zum Wesen der ­Parodie werden beispielsweise am Coverartwork der Peaches-CD »Fatherfucker« veranschaulicht, das die machohafte Ästhetik von Heavy-Metal-Covern aufgreift, aber feministisch umdeutet. »Schon der Titel der CD kritisiert ein oft vor allem im HipHop genutztes Schimpfwort«, resümiert Leibetseder, »und Peaches macht dessen frauenfeindliche Komponente sichtbar, indem sie es auf die männliche Version umlegt und das Wort selbst parodiert.« Dieser Befund ist natürlich richtig, aber wäre man darauf nicht auch ohne eine vorausgehende Analyse über subversive Sprechakte und den Nachahmungscharakter der Poetik bei Aristoteles gekommen? Immer dann, wenn Leibetseder zu ihrem eigentlichem Thema, dem queeren Pop, zurückkommt, erinnert die Analyse an eine solide Plattenkritik, steht aber in keinem Verhältnis zum kulturhistorischen Ballast, der ihr vo­rausgeht. Und dies nicht, weil Pop banal wäre, sondern weil die queeren Strategien im Pop meist so evident sind, dass sie weder Aristoteles noch Julia Kristeva voraussetzen.
Fast alles, woran »Queere Tracks« scheitert, ist nicht auf das Scheitern der Autorin Doris Leibets­eder zurückzuführen, die stets die richtigen Überzeugungen vertritt. Es ist dem deutschen Universitätsbetrieb geschuldet, dessen Vorstellung von wissenschaftlicher Seriosität genau das verhindert, was man sich doch eigentlich gewünscht hätte – ein ebenso historisches wie analytisches Kompendium queerer Popmusik. Wer danach sucht, muss nach wie vor auf englischsprachige Publikationen zurückgreifen. Etwa auf »Riot Grrrl: Revolution Girl Style Now« von Nadine Monem oder auf »Homocore« von David Ciminelli und Ken Konx, ein ausführliches Porträt der queeren Punkszene, die es in dieser Form bislang nur in den USA gibt.
Auch im englischsprachigen Raum fehlt es an einem Buch, das queeren Pop über einzelne Sparten, Genres und Jahrzehnte hinweg als Ganzes betrachtet. Ein Standardwerk zum Thema, »Queer Noises« von John Gill, versucht dies zwar, indem sowohl John Cage, Bronski Beat, The Kinks und Cecil Taylor Erwähnung finden, doch in dem 1995 veröffentlichten Buch fehlen sämtliche neueren Entwicklungen, selbst die Riot Grrrls finden darin noch keine Erwähnung. Während bei Doris Leibetseder fast nur weibliche Künstler unter »queer« subsumiert werden, sind es bei John Gill vorwiegend Männer. Dennoch finden sich in seinem Buch Gedankengänge, die in allen anderen Publikationen – einschließlich »Queer Tracks« – völlig ausgespart werden. Etwa die Frage, ob und inwieweit sich bestimmte Minoritätserfahrungen auch in der Materialästhetik niederschlagen. Gibt es spezifische Ansätze einer queeren Ästhetik, die als Folge von Diskriminierung eine bewusste Abweichung vom Mainstream darstellen? Hat es zum Beispiel einen Sinn, John Cage als queeren Musiker zu bezeichnen, oder ist es nur Zufall, dass es sich bei Cage zugleich um einen radikalen Komponisten wie auch um einen homosexuellen Menschen handelte? Und wie verhält es sich dann mit Künstlern – zum Beispiel im Disco-Kontext –, die queere Affirmationsstrategien bevorzugen? Das sind Fragen, die hoffentlich noch so manche aufregende Publikation nach sich ziehen werden. Bis dahin bleibt »Queere Tracks« ein Track unter vielen anderen, die noch auf die richtige Compilation warten.

Doris Leibetseder: Queere Tracks. Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik. Transcript-Verlag, Bielefeld 2010. 336 Seiten, 29,80 Euro