Eine Lokomotive auf Abwegen
Gesänge wie »Zyklon B dem BFC« konnte man bei Spielen der beiden großen Leipziger Fußballclubs, dem 1. FC Lokomotive und der BSG Chemie, schon zu DDR-Zeiten hören. Aber während Hass-Parolen gegen den als Stasi-Club verpönten Berliner Verein BFC Dynamo damals vielleicht noch als Regimekritik interpretiert werden konnten, outeten sich Nazis nach der Wende im Stadion immer offener. »Lok«, neu gegründet als VfB Leipzig, wurde bekannt für den Spruch »Wir sind Lokisten – Mörder und Faschisten«, und auch der aus der BSG hervorgegangene FC Sachsen galt nicht gerade als antifaschistisch.
Dort aber begannen Fans, unter ihnen vor allem die Ultra-Gruppe »Diablos«, sich gegen Diskriminierung, Rassismus und Nazismus zu wehren. Sie forderten die Aufnahme von Anti-Diskriminierungsregeln in die Vereinssatzung und stellten sich auch schon mal mit einem riesigen Transparent gegen Rassismus auf das Spielfeld. Nazi-Fangruppen stießen auf Widerstand und konnten sich beim FC Sachsen nicht durchsetzen – auch wenn es sie in Form der relativ kleinen Gruppe »Metastasen« weiterhin gab.
Der VfB Leipzig entwickelte sich dagegen konsequent zu einem Club der Nazi-Szene. Nachdem der VfB 2004 endgültig pleite gegangen war, gründeten Fans den 1. FC Lokomotive neu. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten ehemalige Hools, darunter auch der NPD-Kader Nils Larisch. Er betrieb über Jahre das Merchandising des Clubs und versuchte nach eigenen Angaben in dieser Zeit, den Verein dazu zu nutzen, die Fans zu agitieren. Die Nazis unter den Fans wurden vom Verein lange Zeit nicht als Problem wahrgenommen, gegen sie vorgegangen wurde schon gar nicht. In der Konsequenz rissen die Skandale nicht ab, die Lok im Zusammenhang mit Nazi-Überfällen und Propaganda-Aktionen in die Presse brachten. Erst ziemlich spät und auf öffentlichen Druck hin sah der Club ein, wie sehr der Ruf, ein Nazi-Verein zu sein, ihm schadete. Es dauerte bis 2007, bis zumindest Larischs politische Aktivitäten im Verein dem Vorstand zu viel wurden. Man warf ihn raus und erteilte ihm Stadionverbot.
Damit war das Nazi-Problem allerdings noch nicht gelöst. Vor allem Ultra-Gruppen wie die »Blue Caps LE« etablierten sich als Sammelbecken für gewaltbereite männliche Jugendliche, deren rechtsradikale Überzeugung dort weiter verfestigt wurde. Als die »Blue Caps« in den Laden des Lok-Fanprojekts einzogen, malten sie als erstes – und noch vor dem Lok-Logo – den »SS«-Schriftzug von Lazio Rom an die Wand. Angeleitet wird die Gruppe vor allem von Enrico Böhm, »einer Art Ziehsohn« von NPD-Hool Larisch, wie es im September in einem Dossier der Zeit formuliert wurde. In dem Dossier hatten sich zwei Personen unter falschem Namen – vermutlich Böhm und Larisch – ausführlich als erfolgreiche nationale Unterwanderer von Lok Leipzig präsentiert. Die »Blue-Caps« warben für Aufmärsche der Nazi-Gruppierung »Freies Netz«, traten als Saalschutz für NPD-Veranstaltungen auf, und einige ihrer Mitglieder sitzen wegen diverser Körperverletzungsdelikte gegen Chemie-Fans, Linke oder Polizisten im Gefängnis (Jungle World 37/2008). Enrico Böhm und Nils Larisch sind mittlerweile zu Hauptverantwortlichen des NPD-Zentrums in der Leipziger Odermannstraße geworden, auch die »Blue Caps« haben dort ihre Postadresse und veranstalteten Konzerte. Aus dem Fanprojekt sowie dem Lok-Stadion wurden sie erst 2008 ausgeschlossen.
Dabei sind sie nicht die einzige Problemgruppe. So hält sich »Blue Side Lok«, eine weitere Ultra-Gruppe beim Oberligisten, zwar aus derart offener Nazi-Politik heraus. Aber auch dort tragen viele die berüchtigte Modemarke »Thor Steinar«, und regelmäßig fallen ihre Anhänger durch antisemitische Gesänge auf.
David Steinach von der Initiative »ag.doc«, die Diskriminierung im Leipziger Fußball dokumentiert, sagte der Jungle World, dass »mittlerweile fast die ganze rechte Szene bei Lok ist«. Verantwortlich dafür sei vor allem die langjährige Ignoranz, teils aber auch die Sympathie für die Nazis. Der Leiter des Fanprojekts von Lok, Udo Überschär, habe auf Nachfrage erklärt, man dürfe eben nicht nur Antirassismusarbeit machen, sondern müsse »auch die andere Seite« berücksichtigen.
Solche Ignoranz gibt es allerdings auch beim zweiten großen Leipziger Verein, dem FC Sachsen. Die Aufnahme eines Anti-Diskriminierungs-Paragrafen in die Satzung wurde dort immer wieder abgelehnt. Inzwischen sind die antifaschistischen Ultras »Diablos« und viele weitere Fans, die von dieser Politik genug hatten, zu einem anderen Verein gewechselt: der wiederbelebten »BSG Chemie«. Dass sich beim FC Sachsen weniger Nazis als bei Lok tummeln, hatte weniger mit verantwortlicherem Handeln des Vereins zu tun als mit der Aktivität von alternativen Fans. Zugleich ist Lok für Nazis attraktiver, weil der Club traditionell als der bei der Straßengewalt erfolgreichere Club gilt. Spätestens seit einem großen Angriff von Lok- auf Chemie-Fans 1983 übt Lok auf gewaltbereites Publikum die wesentlich größere Anziehungskraft aus. So prahlen die »Blue Caps« im Web mit ihren Übergriffen auf Sachsen-Fans beim Ortsderby: »Lok beherrscht die Straßen nach Belieben.« Es ist also nur folgerichtig, dass gewalt- und autoritätsfixierte Jugendliche, die das Rekrutierungspotential organisierter Nazis bilden, vor allem bei Lok landen, wenn es um Fußball geht. Wenn sie dort wie in vielen unterklassigen Clubs eher auf Toleranz für Rassismus, Sexismus und Antisemitismus stoßen, ist die weitere Entwicklung absehbar. Der FC Sachsen ist davor keineswegs gefeit. Seitdem die antirassistischen Fans den Verein verlassen haben, können sich die Nazis wieder ungestört ausbreiten, und auch die »Metastasen« haben neue und immer jüngere Mitglieder.
Oberliga-Clubs wie Lok Leipzig haben dabei eine Ausstrahlung weit über die Stadt hinaus. Die Vereine in den Dörfern und Kleinstädten sind David Steinach von »ag.doc« zufolge schlicht zu klein, um eine ausreichend große Fanszene aufzubauen: »Das Umland hat nie eine aktive Bedeutung für die Fanszene gehabt. Selbst wenn es in Eilenburg einen Überfall von Lok-Hools auf Sachsen-Fans gibt, sind die Drahtzieher oft dieselben – vor allem aus Leipzig.« Sicher gibt es auch jenseits der Großstadt Probleme mit Nazi-Hools. Der Fall Brandis ist da nur das bekannteste Beispiel. Aber Gruppen, wie sie in Leipzig zwischen Hool- und Nazi-Umfeld existieren, bilden sich im Umland weniger innerhalb der Fußball-Clubs aus denn als offene politische Schläger-Cliquen – wie die »Terror Crew Muldental«, die auch an den Übergriffen in Brandis beteiligt war.
Aber auch in Leipzig lassen sich nicht alle Lok-Anhänger als Nazis einsortieren. Zwar findet sich im Umfeld von Lok Leipzig eine geradezu klassische Hool-Nazi-Mischszene. Andererseits waren ältere Lok-Hools oft genug dabei, wenn es bei Aufmärschen am 1. Mai in Leipzig darum ging, Nazis anzugreifen. Und der Chef des Jugendverbands der sächsischen NPD, Tommy Naumann, wollte das NPD-Zentrum in der Odermannstraße schon fast wieder aufgeben, weil er mit dem »unpolitischen Müll« aus dem Fußball-Umfeld nichts zu tun haben wollte. Gleichzeitig haben sich einige Kader der »Freien Kräfte Leipzig« inzwischen ganz vom Fußball abgewendet und betreiben nur noch Politik. Ihre Beteiligung an Nazi-Strukturen hat aber im Umfeld von Lok Leipzig angefangen.