Hannover, Spandexhosen, Schmachtfetzen: Die Scorpions

Du kriegst die Scorpions aus Hannover raus, aber Hannover nicht aus den Scorpions

Die Scorpions mögen gemeinsam mit David Hasselhoff die Mauer gestürzt, 17 Studioplatten in 45 Jahren aufgenommen haben und die beliebteste europäische Band in Japan sein, eines haben sie in ihrer ganzen Bandgeschichte leider nicht geschafft: Hannover loszuwerden.
Bis vor kurzem war mir nicht bewusst, dass die Scorpions aus Hannover kommen, doch dann wurde ich aufgeklärt. Ich unterhielt mich mit einem Freund und wir kamen auf die Scorpions zu sprechen. Er versuchte, mich von der Band zu überzeugen: »Nein, nein, die haben nicht nur Balladen wie ›Wind of Change‹ gemacht, sondern früher auch echt gute Hardrockplatten. Das würde dir bestimmt gefallen!« Ein paar Tage später passierte mir mit einer anderen Freundin ähnliches. Die gebürtige Hannoveranerin redete auf mich ein: »Hannover hat alles, was andere Städte auch haben. Es ist nur ruhiger und beschaulicher. Es gibt dort coole Cafés, super Konzerte und ein astreines Theater. Das würde dir bestimmt gefallen!«
Ich war wieder: nicht überzeugt. Die Scorpions sind eben mehr Bon Jovi als Metallica, genau so wie Hannover mehr Fulda als Hamburg ist. Trotzdem öffneten mir diese beiden Unterhaltungen die Augen: Scorpions und Hannover sind unausweichlich miteinander verschlungen.
Der Ex-Kanzler und gebürtige Hannoveraner Gerhard Schröder ist bekennender Fan der Hochglanz-Metaller, und wann immer sich ihm die Möglichkeit bot, zog der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel in seiner Funktion als Pop-Beauftragter der SPD die Mannen um Klaus Meine zu sich aufs Pressefoto. Die Hardrocker haben außerdem gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern die Expo2000-Hymne »Morning of Glory« in der Preussag-Arena aufgeführt. Jener Arena, in der der profilloseste Fußballverein der Bundesliga, Hannover 96, beheimatet ist. Ihre Eishockey-Mannschaft wiederum heißt Hannover Scorpions.
Aber der größte Fehler der Band und der Stadt ist das ständige Feilen an weltmännischen Superlativen, die beide dann noch mittelmäßiger erscheinen lassen als sie sind. Stichwort: Weltausstellung! Stadionrock!
Denn das Gegenteil ist der Fall. In meinem Kopf kann ich Hannover immer sehr schwer von den Einkaufszonen in Dortmund, Bielefeld und Kassel abgrenzen. Genauso wie die Scorpions immer mit Doro Pesch, Def Leppard und den Söhnen Mannheims zu einer Band verschmelzen. Und alles zusammen dann zu einer Neunziger-Jahre-Westdeutschland-Matsche, die wie ein monumentaler Warnhinweis in meinem Kopf aufleuchtet und mich vor allem bewahren will, was ich schon in meiner Jugend hinter mir lassen wollte: aufgeräumte, westdeutsche Oberzentren und keimfreien Altmänner-Hardrock.
So wird meine schönste Erinnerung an die Scorpions für immer die eine bleiben: Wie ich damals in den Achtzigern auf dem achten Geburtstag meiner Freundin Sabrina Playback zu »Wind of Change« gesungen und getanzt habe. Sie mögen echte »Rock-Opis« sein, für mich werden sie immer die Balladenpfeifer aus dem Radio bleiben. So wie Hannover eben nicht das Zen­trum der Welt ist, sondern die Stadt, in der jedes Jahr die CeBit stattfindet. Es gibt übrigens viel Schlimmeres. Sollte den beiden vielleicht mal jemand ausrichten.
Nina Scholz
Grenzen der Dehnbarkeit
Polyurethan und Polyethylenglykol besitzen wundersame Eigenschaften. Verbinden sich die beiden Stoffe, entsteht ein sogenanntes Copolymer, das überaus elastisch ist: Der Kunststoff lässt sich auf etwa 700 Prozent seines ursprünglichen Ausmaßes dehnen. In der Bekleidungsbranche sind diese Kunstfasern unter dem Namen Spandex bekannt.
Spandex gibt es bereits seit den sechziger Jahren. In der Rockmusik wurde es in den Achtzigern äußerst gern getragen, Matthias Jabs und Rudolf Schenker, die Gitarristen der Scorpions, zeigten sich auf der Bühne sehr gern in den knarz­engen Gummihosen. Über die Gründe dafür lässt sich nur spekulieren. War der Tragekomfort ausschlaggebend? Während Jeans und Leder so manche Bewegungen erschwerten, konnte selbst der gewagteste Luftsprung das Spandex nicht an die Grenzen seiner Dehnbarkeit bringen. Außerdem nimmt der Kunststoff sehr wenig Feuchtigkeit auf. Der auf der Bühne vergossene Schweiß klebte Jabs und Schenker also nicht an den Beinen, sondern lief an diesen herunter und direkt in die Stiefel. Nach dem Auftritt mussten die Gitarristen diese nur noch ausleeren – eine überaus praktische Sache.
Unter Umständen haben auch modische Erwägungen eine Rolle für die Auswahl der Bühnengarderobe gespielt, auch wenn den meisten Menschen die Spandex-Hosen heutzutage ein unansehnlicher Graus sein dürften. Dabei sind sie nicht hauptsächlich hässlich, sondern vor allem irritierend. Sie zu tragen, war bis in die achtziger Jahre vor allem Frauen vorbehalten. Warum sich ausgerechnet Musiker aus einem von Männern dominierten Genre, in dessen Texten Geschlechterfragen nicht unbedingt progressiv abgehandelt wurden, in Frauenhosen zwängten, wurde bislang nur ungenügend geklärt. Zumal die Spandex-Hose ja erst in einer ganz bestimmten, nur bei den Scorpions auftauchenden Kombination ihre volle Wirkung entfaltete: zusammen mit Rudolf Schenkers Oberlippenbart. Spandex und Schnauzer – über die Frage, wie zusammenging, was eigentlich nicht zusammengehört, können sich wohl auch die versiertesten Gender-Theoretikerinnen und -Theoretiker noch den Kopf zerbrechen, wenn die Band längst in Rente ist.
Markus Ströhlein
Im Kampf mit der Musik
Musikern, die nicht die Musik, sondern die Welt verbessern wollen, sollte man möglichst nicht zuhören. Das gilt umso mehr, je populärer sie sind. Dann nämlich kaschiert die pseudopolitische Attitüde nicht nur den Mangel an musikalischer Originalität, sondern dient zugleich als Lautsprecher des kollektiven Vorurteils. Das trifft auf all jene Hymnen zu, die mit simplen Akkorden wider den Welthunger und den Klimawandel, für Karl den Käfer oder gegen Ronald und später George, die beiden Kriegstreiber, Stellung beziehen. Ganz besonders aber ragt aus dieser ohnehin degoutanten Sparte moderner populärer Musik ein Schmachtfetzen heraus, der aus deutscher Sicht die Perestroika und damit das Ende der Nachkriegsordnung bejubelt: »Wind Of Change« von den Scorpions, Deutschlands erfolgreichster und dienstältester Rock-Combo.
Als ich dieses Stück 1990 zum ersten Mal im Radio hörte, war es trotz seines penetranten Schunkelrefrains nichts weiter als ein musikalisches Ärgernis, aber zunächst auch nicht viel ärger als andere, später so genannte »Power-Balladen« der Scorpions. Denn stets wurde es auf deren ansonsten häufig recht soliden Erfolgs­alben zappenduster, wenn das Chorknaben-Organ des Lead-Sängers Klaus Meine sich gegen die harten Gitarrenriffs seines Altkumpels Rudi Schenker durchsetzte – was regelmäßig bei den von Meine komponierten Schmusenummern der Fall war: Welcher Besucher von Tanzlokalen mit Rock-Beschallung hat nicht schon unter dem kaum erträglichen Klagegeheul von »Still Loving You« (1984) leiden müssen? Und trotzdem war es mit »Wind Of Change« anders, denn diesmal ging es schon in der Titelzeile nicht um den wenigstens belanglosen Herzschmerz von blondierten Menschen in gestreiften Hosen, sondern um Weltbewegendes. Klaus Meine hatte in Leningrad, wo die Scorpions 1989 auftraten, offenbar dasselbe Erweckungserlebnis wie zur selben Zeit Helmut Kohl beim Staatsbesuch Gorbatschows. In Meines Fall zahlte sich das sogar aus, weltweit kauften 14 Millionen Konsumenten die Single »Wind Of Change«.
Aber nicht allein diese Zahl sorgte dafür, dass das Stückchen in der ZDF-Sendung »Unsere Besten« 2005 zum deutschen »Jahrhunderthit« gewählt und vor vier Wochen erst »als globale Hymne für das friedliche Ende des Kalten Kriegs« in der Berliner O2-Arena mit einen Echo ausgezeichnet wurde. Es war vielmehr der Kontext, in den die Band »Wind Of Change« im dazugehörigen Video-Clip stellte, der den Song zum deutschesten aller deutschen Lieder gemacht hat. Denn Meines Botschaft in diesem Clip war unmissverständlich: Alles renkt sich jetzt wieder ein, lautete sie, die Völker der Welt schütteln die Fremdbestimmung der Nachkriegszeit ab, die sozialistische, die amerikanische und natürlich die jüdische. Der Sänger, von Kopf bis Fuß in passendes schwarzes Leder gehüllt, lässt die Massen rebellieren, Szenen vom Tiananmen-Platz oder aus Soweto mischen sich ganz beiläufig mit Bildern vermummter Intifada-Randalierer. Die zählen hier vollkommen selbstverständlich zu den Hauptakteuren der von Meine besungenen »glory night, where the children of tomorrow share their dreams with you and me«. Karl Selent hat »Wind Of Change« deshalb auf die treffende Formel gebracht: »Die Scorpions im Kampf mit der Musik und dem sowjetisch-chinesisch-israelischen Bolschewismus«.
Ein dritter Kampf wäre hier noch anzufügen: der mit der englischen Sprache. Der währt bereits so lange, wie Klaus Meine bei den Scorpions singt, also seit 1969. Dabei heimste die Band in den Siebzigern und Achtzigern sogar Kritik ein, weil sie sich vordergründig der nationalen Selbstfindung der deutschsprachigen Rockmusik verweigerte, Meines Texte konsequent ins Englische übersetzte und so dann auf die Bühne brachte – aber eben als deutlich hörbar aus dem Deutschen übersetzte Pennäler-Lyrik, die obendrein in der Aussprache keinerlei Rücksichten auf fremdsprachliche Lautbildungs-Gepflogenheiten nahm. Tatsächlich sangen die Scorpions nicht nur deswegen Englisch, um mit Van Halen, Ted Nugent oder AC/DC international konkurrieren zu können, sondern auch, um zu zeigen, dass man mit der Sorte Englisch Erfolg haben kann, die einst in amerikanischen TV-Serien ein sicherer Lacher war. Und die Band wurde im Lauf der Jahre immer frecher mit ihrem germanisierten Rock-Idiom: Nicht jeder hätte sich getraut, ausgerechnet den für Deutsche zungenbrecherischen Titel »Is There Anybody There« aus der 1979er LP »Lovedrive« für den US-Markt auszukoppeln und sich dabei einen Dreck um scharfes »s« und weiches »th« zu scheren. So wurden die Scorpions Vorreiter darin, die Sprache der Verwestlichung Deutschlands, an der viele Alt-Volkstümler bis heute leiden, gegen sich selber zu kehren. Und sie lagen im Trend: Heutige Neologismen wie Handy und Public Viewing sind Indizien eines selbstherrlichen Teutonen-Pidgin, in dem Deutsche Amerikaner nach 9/11 auffordern konnten, sich alles gefallen zu lassen: »No blind vengeance!« hieß das in der Art ebenso wörtlicher wie für Muttersprachler unverständlicher Übersetzung, die einst die Scorpions international bühnentauglich gemacht hatten.
Uli Krug
Der rauchende Sohn
Frei nach Bubblefish: Nehmen Sie mich zur Magie des Momentes auf einer Ruhmnacht, wo die Kinder des Morgens ihre Träume mit Ihnen und mir teilen. Nehmen Sie mich zur Magie des Momentes auf einer Ruhmnacht. Wo die Kinder des Morgentraums weg im Wind der Änderung. Der Wind der Änderung brennt gerade durch in das Gesicht der Zeit.
In dem Haus, in dem ich früher wohnte, gab es drei Fenster zur Straße und eines zum Hof. Im Hof spielte eine Kindertagesstätte täglich im Garten. Die waren so laut, wie Kinder plus zwei Erzieherinnen eben sind. Wenn ich nichts zu tun hatte, und das war in diesen glorreichen Zeiten oft der Fall, schaute ich aus meinen Fenstern heraus. Kindern zuzusehen, wie sie aus Sand Matsche machen und daraus Kuchen backen, ist auf die Dauer eintönig. Also sah ich auf die Straße. Doch meistens sah ich auf das Haus, das meinem gegenüberstand. Ein sogenannter Altneubau, nichts Halbes und nichts Ganzes, aber immerhin mit Balkonen, auf die die Sonne schien. Das war mehr, als ich hatte. Ich hatte ja nur Fenster. Auf einem Balkon stand sommers wie winters, bei Regen und Sturm, ein Sohn und rauchte. Er lebte mit seinen Eltern dort drüben, und die rauchten nicht, oder aber sie versuchten, ihn durch diese Strafmaßnahme aus der Wohnung zu ekeln. Der Sohn war Ende dreißig. Wenn seine Eltern nicht zu Hause waren, rauchte er und hörte Musik. Sehr laut und immer wieder das eine Lied. Das schlimme. Von den »Scorps«, wie eingefleischte Fans die Hannoveraner nannten. Nach dem zehnten Durchlauf war der Rest der Straße böse und aggressiv. Wir schauten nach den Eltern aus, wo bleiben die nur? Wir schrien ihn an, er solle den Krach ausmachen, doch er hörte uns nicht, die Musik war zu laut, und unsere wütenden Gesten erwiderte er mit freundlichem Winken. Er tat mir leid, ich glaubte, dass er wartete, auf den Wind der Änderung in seinem Leben. Vielleicht stand zu seinen Füßen eine gepackte Reisetasche, und er war immer bereit, sich von dem Wind mitnehmen zu lassen. Der kam jedoch nie, und so stand er weiter und hoffte. Nach etwa einem Jahr aber gab er auf und kaufte sich ein neues Lied, das seiner Resignation entsprach. »Life is Life«. Da zog ich weg.
Sarah Schmidt