Drei Impressionen vom 1.Mai

Autonome Leichtathletik

Man kommt einfach nicht an ihm vorbei: der einstige Arbeiterkampftag bleibt das alljährliche Großevent der Linken, auch trotz oder wegen seines zeremoniellen Charakters. Drei Inneneinblicke vom diesjährigen 1. Mai

Rund um Bornholm
Es ist acht Uhr. In Kreuzberg lassen nur einige Absperrgitter und verbarrikadierte Banken erahnen, dass der Tag, wie von der Polizei befürchtet, »die schwersten Krawalle seit Jahren« bringen könnte. Im Prenzlauer Berg wird eine Demons­tration von 3 000 Nazis erwartet, starten wollen sie um zwölf Uhr. Dementsprechend hoch ist die Dichte von Ordnungshütern mit all ihren Accessoires. In einigen Querstraßen rund um die Bornholmer Straße wollen bereits einige Blockierfreudige einen taktisch günstigen Sitzplatz ergattern. Gleich zwei Bündnisse hatten im Vorfeld zu den Blockaden aufgerufen und ein Konzept mit zwei festen Blockadepunkten veröffentlicht. Um schon für die Anreise genügend Blockierende zu bündeln, gab es vorab Treffpunkte innerhalb Berlins.
Inzwischen ist es halb zehn. Auf einer Brücke, Höhe Malmöer Straße, sitzen bereits einige Menschen. Ein paar Meter entfernt halten zwei schwarze Autos. Die Türen öffnen sich, drei Männer steigen aus. Alle tuscheln und blicken den Anzugträgern – teils überrascht, teils verächtlich grinsend – hinterher:«Das ist doch der Körting, das Sackgesicht!« Geleitet von Schutzpersonal, macht sich dieser auf den Weg zum Lautsprecherwagen. Das Auto des Innensenators weckt bei manch einem Interesse: »Wenn ich mir sicher wäre, dass die Nasen heute nicht mehr marschieren, würde ich die Karre zerlegen«, sagt ein Jugendlicher, dem es offenbar in den Fingern kribbelt.
Um zwölf Uhr hat eine Gruppe von Nazis den S-Bahnhof Bornholmer Straße erreicht. Weitere hängen in Oranienburg und Weißensee fest. Über eine Unterführung, vorbei an Polizisten hoch zu Ross und durch eine labyrinthähnliche Schrebergartenanlage hindurch, sind weitere Blockadepunkte zu erreichen. Eine große Menge Demonstranten rennt lauthals schreiend, aber formiert von einer Kreuzung zu der nächsten. Die Polizei wird sichtlich nervös. Möbel, Gitterzäune und Holzplatten werden auf die Straße gezerrt, die Polizei stürmt in Unterzahl auf die Schaffenden zu. Trotzdem bricht Panik aus.
Einige Meter weiter ist es völlig ruhig, bis auf penetrante Trommellaute und ebenso stumpfe Reden, die durch die Lautsprecher dröhnen. Ein Mann mit schwarzer Hornbrille erklärt seinem etwa vierjährigen Sohn, wieso so viele Demons­tranten diese »komischen rot-schwarzen Lappen« dabei haben: »Falls sie später auf Nazis treffen, können sie mit diesen sehr dicken kurzen Stielen die Nazis richtig doll verhauen.«
Halb zwei. Die Nazis haben nur noch 90 Minuten Zeit für ihre Demonstration. In einschlägigen Internetforen wettern bereits einige Kameraden, dass »Berlin einem Komplettausfall« nahe käme. Auch Sebastian Schmidtke, der Anmelder der Demonstration, »hüpft total nervös ’rum und meckert«, freut sich ein junger Mensch mit roten Haaren. An anderer Stelle lässt eine junge Frau ordentlich Dampf ab. Ihr gefällt das T-Shirt eines Demonstrationsteilnehmers nicht: »Entweder du machst jetzt deine Jacke zu oder es kracht! Denkst du, dass es einen Unterschied macht, ob du einen Menschen aufgrund seiner Herkunft oder aufgrund seines Geschlechts diskriminierst?« Mit zuckenden Mundwinkeln verdeckt der Jugendliche die nackte Frau auf seiner Brust.
»Die Nazis stehen seit Stunden am S-Bahnhof, und die anderen können nicht anreisen. Ihr seid spitze!« hallt es schließlich aus dem Lautsprecher. Und während die einen den Erfolg bei dumpfen Technobeats feiern, sitzen andere demotiviert auf den Gehwegrändern. »Gut wäre es gewesen, wenn die Nazis und die Bullen auf die Fresse bekommen hätten und die Stadt brennen würde«, beschwert sich eine Frau mit Einkaufstasche und buntem Fahrrad. Immerhin sollen einige »Faschos schon morgens aufs Maul« bekommen haben. Das zaubert auch ihr noch ein Lächeln auf die Lippen. So sind alle halbwegs glücklich. Und Körting, der Spielverderber, der sich die ganze Zeit über die Blockaden entrüstete, wirkt wie ein verbitterter Dilettant. Anna Goldschmidt
Vakuum in Hamburg
Mit den Ereignissen in Hamburg rund um den 1. Mai ist es wie mit der jährlichen Weihnachtsansprache der Bundeskanzlerin. Irgendwie hat man das alles schon mal gehört und zu viel kommt einem bekannt vor.
Die morgendliche Gewerkschaftsdemo war der übliche gemeinsame Spaziergang zum kollektiven Bratwurstessen, unter der Losung, die soziale Gerechtigkeit zu verteidigen. Schmerzen muss die Gewerkschafter, dass einige Stunden später die Organisatoren des Euromayday trotz einsetzenden Regens mit bis zu 3 000 Teilnehmern ebensoviel Menschen auf die Straße gebracht haben wie der DGB. Hier lag der Schwerpunkt auf Forderungen nach einem »Recht auf Stadt« für alle. »Die Stadt ist unsere Fabrik. Ich will nicht mit der ARGE teilen. Wenn du mir dumm kommst, komm’ ich dir anders«, lautete das zentrale Motto.
Auf der revolutionären Mai-Demonstration fanden sich schließlich 1 500 vorwiegend jüngere Aktivisten ein. Am Ort der Abschlusskundgebung löste die Polizei die Veranstaltung mit einem Wasserwerfereinsatz auf. Die unerwartet große Beteiligung wurde von dem Vorbereitungskreis mit Genugtuung registriert. Nachdem es wegen einzelner Bündnisgruppen, die sich an der Blockade des Films »Warum Israel« von Claude Lanzmann im vergangenen Herbst beteiligt hatten, dazu gekommen war, dass sich andere Gruppen von der abendlichen Veranstaltung distanzierten, hatten die Veranstalter selbst lediglich 500 Teilnehmer erwartet. In einer Erklärung nach der Demonstration ließ das Bündnis selbstbewusst verlauten, »trotz Boykottaufrufen antideutscher Kreise in der Roten Flora« habe man die mit Abstand größte Hamburger revolutionäre Mai-Demonstration seit sieben Jahren auf die Straße gebracht.
Dass der diesjährige 1. Mai sich doch noch von den Jahren davor abhob, ist aber auch der desas­trösen Lageeinschätzung der Polizei zu verdanken. Die hatte reichlich naiv vor dem Wochenende verkündet, man rechne mit einem ruhigen Verlauf. Entsprechend entsandte die Innenbehörde sogar Hundertschaften nach Berlin. Schon in der Walpurgisnacht mussten eilig zusammengezogene Polizeibeamte dabei zuschauen, wie bis zu 100 Personen im Schanzenviertel Autos und eine Bank demolierten.
Die unterbesetzte Polizei bekam die Situation erst unter Kontrolle, nachdem die einzig verfügbare Hundertschaft der Bereitschaftspolizei aus den Betten geholt worden war. Dieses Szenario wiederholte sich knappe 24 Stunden später nach der erzwungenen Auflösung der Demonstration. Es beteiligten sich etwa 700 Menschen unter anderem an der Zerlegung von weiteren Banken und Geschäften. Nun wurde sogar Verstärkung mit dem Hubschrauber aus Berlin eingeflogen.
Jetzt wird in Hamburg allerorten analysiert. Die Polizei wird Hand in Hand mit dem Verfassungsschutz das Versagen ihrer Aufklärung aufzuarbeiten haben. Und die linke Szene wird sich mit der Tatsache beschäftigen, dass bei den nächtlichen Auseinandersetzungen die organisierten autonomen Strukturen gefehlt haben. Die waren nämlich in Berlin, wie es die Sicherheitsbehörden vorausgesagt hatten. Und da soll es ja recht friedlich geblieben sein. Andreas Blechschmidt
Kreuzberger Depressionen
Ich kann einfach nicht werfen. Als Straßenkämpfer bin ich daher eine Niete. Wenn ich versuche, mit Pflastersteinen gute Taten zu vollbringen, endet das meist peinlich oder im Desaster, wie zum Beispiel am Rande einer Scherbendemo in Hamburg. Da warf ich mit viel Elan und revolutionärer Überzeugung einen Stein gegen das Schaufenster einer Bank. Der aber prallte am Sicherheitsglas ab und mir mitten ins Gesicht. Meine blutende Platzwunde wurde anschließend noch von einem Polizeisanitäter verarztet. Weniger harmlos endete mein Missgeschick bei einem autonomen Out-of-Area-Einsatz in Solidarität mit der griechischen Sozialrevolte. Im Eifer des wilden Gefechts warf ich einen Brandsatz in Richtung einer anstürmenden Polizeieinheit und setzte dabei mich und einen Genossen in Brand.
Der 1. Mai ist ein stilles Jubiläum für mich. Vor 18 Jahren kulminierte, unter der Einwirkung eines Polizeiknüppels, meine Wut darüber, wie die Welt eingerichtet ist, in einem ersten, natürlich verpatzten Steinwurf. Es war für mich der symbolische Bruch mit dem System. Vielleicht maß ich deshalb dem 1. Mai und der autonomen Leichtathletik so viel Bedeutung bei. In der Auseinandersetzung mit der Polizei glaubte ich die verborgene Frontlinie zwischen Subversion und dem bestehenden Schlechten zu erkennen. Trotz meiner Wurfschwäche mischte ich fast bei jedem 1. Mai ganz vorne mit. Es war wie ein Versprechen, das ich mir selbst gegeben hatte und das Jahr für Jahr wieder feierlich eingelöst und rituell erneuert werden musste.
Doch in den vergangenen Jahren wurde es immer schwieriger und riskanter. Die Bullen wurden von Mal zu Mal besser und die Demonstranten weniger entschlossen. Zudem gerieten meine »Combo« und ich in den Fokus der Polizei und ihrer Spezialeinheiten. Schließlich mussten wir wehmütig auf andere Städte, dann sogar auf andere Länder ausweichen. Der 1. Mai verlor seine Attraktivität. Alles, was an der Bewegungslinken schlecht ist, tritt an diesem Tag besonders deutlich zutage. Nach dem man sich jahrelang mit Mao-, Stalin- und Lenin-Fans herum geärgert hatte, ergriff die Inhaltsleere der Pop-Antifa die Demonstration. Beim Krawall dominierten nun die Suffpunks, Hools und andere Schreckensgestalten. Trotzdem fühle ich mich dem Tag immer noch verbunden.
Deshalb bin ich auch in diesem Jahr, mit den Resten meiner alten Bezugsgruppe, zur Demons­tration gegangen. Anders als früher hat niemand von uns Vermummungsmaterial und Handschuhe mit dabei oder die Ausrüstung in einem Depot an der Demoroute versteckt. Wie mir selbst merkt man auch meinen Freunden an, dass sie alle große Probleme haben und ihren Platz in der Bewegung nicht mehr finden können. Wir wissen, dass der 1. Mai nicht mehr unsere Spielwiese ist. Niemand wird heute etwas riskieren.
Nach der Demo kommt es am Spreewaldplatz zu einem kleinen Scharmützel mit der herumlungernden Polizei. Irgendwo fliegen ein paar Steine und Böller. Ein Hauch von Tränengas liegt in der Luft. Ein junger Punk rennt plötzlich durch die Menge. Eine Horde Bullen hetzt ihm hinterher. Er läuft vom Spreewaldplatz über die Wiener Straße und versucht verzweifelt, seine Verfolger abzuhängen. Neugierig verfolgen Hunderte von Schaulustigen, wie der Punk von der Polizei eingeholt, zu Boden gerissen und mitgeschleift wird. Niemand greift ein. Auch wir nicht.
Später treffen sich vor einer Kneipe in der Wienerstraße etwa 80 Leute, die in den neunziger Jahren aktiv waren. Die Stimmung ist gut, es wird gelacht, geflirtet und getrunken. Während sich die Ex-Autonomen in der Kneipe Geschichten von damals erzählen, stehen auf der Straße die Gefangenentransporter der Polizei. Immer wieder werden neue Gefangene in die Wagen verfrachtet. Niemand in der Kneipe interessiert sich groß dafür. Als ich die Wiener Straße überquere, kommt mir ein Trupp Bullen im Laufschritt entgegen. »Platz da!« herrscht mich ein vermummter Polizist an. Gehorsam wechsele ich von der Straße auf den Bürgersteig – und schäme mich anschließend dafür. Amsel Doe