Zwei Radikale aus Athen im Gespräch über die Reaktionen der antiautoritären Bewegung auf die Krise

»Eine revolutionäre Situation existiert noch nicht«

Am Wochenende hat die sozialdemokratische Regierung Griechenlands in ein drastisches, rund 35 Milliarden Euro umfassendes Sparprogramm eingewilligt, um ein internationales Hilfspaket von der Europäischen Union und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu erhalten. Über die explosive Situation in Griechenland sprach die Jungle World mit Evangelia und Yannis aus Athen, die zu der radikalen Gruppe TPTG (Ta paidia tis galarias, Die Kinder der Galerie) gehören.

Bereits einige Stunden nach der Ankündigung eines weiteren rigiden Sparpakets durch die Regierung kam es in Athen zu einer Protestdemonstration. Wer hatte sie organisiert?
Evangelia: Aufgerufen hatten einige lokale Gewerkschaftssektionen, eher linke Gewerkschafter, und es kamen nach Angaben von Indymedia Athen etwa 3 000 Leute. Einige Demonstranten versuchten, das Finanzministerium zu stürmen. Die Demonstration war nicht wirklich etwas Neues, in den vergangenen Zeit hatten wir jede Woche mindestens eine Demo mit Tränengas und Angriffen der Polizei.
Yannis: Es waren hauptsächlich politisierte Leute auf der Demonstration am Donnerstag, zumeist aus linken Parteien und aus dem anarchistischen Milieu.
Was wollten sie mit der Demonstration erreichen?
Yannis: Es ist ein Protest gegen die Sparmaßnahmen, sie wollen sie stoppen. Und je nach politischer Zugehörigkeit kommen dann noch andere Ziele dazu. Zum Beispiel bei dem sozialdemokratische Parteienbündnis Syriza wirtschaftspolitische Maßnahmen des Staats, damit die Ökonomie wieder anspringt.
Wie wirken sich die bisherigen Sparmaßnahmen der Regierung im alltäglichen Leben aus?
Yannis: Man beginnt sie zu spüren, aber in ihrem vollen Ausmaß werden sie sich erst in einigen Monaten bemerkbar machen. Dann werden die Beschäftigten beispielsweise ihr 14. Monatsgehalt nicht bekommen, die Lohnkürzungen werden schmerzhaft greifen, und die Preissteigerungen machen sich dann auch richtig bemerkbar.
Hierzulande gilt es in den Massenmedien fast als Skandal, dass die Sparmaßnahmen von den griechischen Arbeitskräften nicht widerstandslos geschluckt werden und es wiederholt zu Streiks gekommen ist. Was aber sind bislang die Grenzen des Widerstands?
Yannis: Zu den Streiks wurde bislang von den Gewerkschaftsspitzen aufgerufen, die Initiative ging von oben aus. Bei den Streiks von Lehrern etwa war in letzter Zeit eines auffällig: In der vorherigen Periode waren die Arbeitsniederlegungen regelmäßig von Vollversammlungen begleitet, es wurden Streikkomitees gegründet usw. Das fehlte in den letzten Wochen fast völlig, es waren zumeist Streiks, die von den Gewerkschaftsspitzen organisiert wurden. Es gab innerhalb der Streikbewegung keinen richtigen Prozess, fast keine Vollversammlungen, gar keine Streikkomitees, keine autonomen Klassenaktionen. Und der Inhalt der Kämpfe ging nicht über gewerkschaft­liche Forderungen gegen die Sparmaßnahmen hinaus.
Das heißt, die Selbstorganisation ist etwas unterentwickelt?
Yannis: Es gibt natürlich Druck von unten, aber es ist kein organisierter Druck. Es gibt vor allem ein weit verbreitetes Gefühl, dass man angegriffen wird, und die Gewerkschaften merken das und wollen nicht delegitimiert werden, deshalb rufen sie zu Streiks auf. Auch die Streikbeteiligung war in den meisten Bereichen nicht so hoch, wie es wegen der Härte des sozialen Angriffs angemessen wäre.
Sind die Hauptakteure des Protests also die Gewerkschaften?

Yannis: Natürlich beteiligen sich viele an den Demonstrationen, nicht nur die Streikenden, auch Studenten, prekäre Arbeiter, vor allem politisierte, und es hat sich auch eine gewisse Kritik am Staat und an den Gewerkschaftsbürokraten ausgedrückt. Außerdem waren die Arbeiterdemonstrationen in den vergangenen Monaten etwas militanter als gewöhnlich.
Wenn die Lehrer streiken, gibt es dann auch Aktionen von den Schülern, die bei der Dezemberrevolte 2008 sehr aktiv waren?
Evangelia: Bis jetzt nicht. Vielleicht haben die Schüler nicht den Eindruck, dass sie selbst angegriffen werden, es trifft ja eher ihre Eltern. Im Dezember 2008 war das anders. Als der 15jährige Alexandros Grigoropoulos von einem Polizisten erschossen wurde, gingen sie davon aus, dass das direkt gegen sie alle gerichtet war.
Und was passiert an den Universitäten?
Evangelia: Es gab einige Vollversammlungen mit einigen hundert Beteiligten, auch Beschlüsse, die Unis während der Streiktage zu besetzen, das geschah auch. Aber es gab keine generalisierte Bewegung.
Yannis: Außerdem manövriert der Staat auch rum. Neben den ganzen Sparmaßnahmen, die vor allem die Arbeiter treffen, hat er einige Maßnahmen beschlossen, die sich für Schüler oder Studenten positiv auswirken. Zum Beispiel hat er den Zugang zu den Universitäten ein wenig erleichtert, damit mehr junge Leute studieren können. Und wegen der Schweinegrippe wurde die Grenze für Fehlzeiten angehoben, so dass man nun besser Absentismus praktizieren kann. (lacht)
Durch die Dezemberrevolte wurde die antiautoritäre Bewegung gestärkt, nicht wenige junge Leute schlossen sich ihr an. Wie hat dieses Milieu auf den Krisenschlamassel reagiert?
Evangelia: Es beteiligt sich an den Demonstrationen, aber die Reaktion ist nicht sehr organisiert. Es gibt kaum Versammlungen, auf denen über die Sparmaßnahmen diskutiert wird …
Yannis:  … es gibt in Athen nur eine Versammlung aus der anarchistischen Szene, die das diskutiert, mit vielleicht 20 bis 50 Beteiligten, aber zu den Demos kommen in der Regel einige hundert oder 1 000.
Evangelia: Es gibt auch nicht besonders viele Texte zu dem Thema. Und dann wurden auch sechs Leuten aus der anarchistischen Szene verhaftet, wegen angeblicher Beteiligung an bewaffneten Gruppen, und fast zwei Wochen lang war die Stimmung sehr gespannt, weil viele befürchteten, sie würden demnächst auch im Knast sitzen. Nichtsdestotrotz gab es einige Aktionen, wie die Besetzung des Gebäudes der Journalistengewerkschaft gegen die Medienpropaganda, auch einige Demonstrationen, die eine Verbindung zwischen den Sparmaßnahmen und der Repression zogen.
Yannis: Zumindest gibt es auch einige Basisgewerkschaften – etwa bei den Kellnern und Köchen oder den Kurieren –, die aus der antiautoritär-anarchistischen Bewegung stammen, sie beteiligen sich auch an den größeren gewerkschaftlich dominierten Demonstrationen und rufen zu Streiks auf. Und was die anarchistische Szene betrifft, nicht alle beteiligen sich an Versammlungen oder organisierten Gruppen, es handelt sich eher um ein soziopolitisches Milieu, vieles wird informell organisiert, zum Beispiel in Freundeskreisen.
Die griechische Regierung hat ein Riesenproblem. Wie versucht sie, möglichem Widerstand vorzubeugen?
Yannis: Das Hauptelement in der Regierungspropaganda ist die »nationale Rettung«: Wir müssen Opfer bringen, damit nicht alles auseinanderfällt. Wir alle müssen hart arbeiten, damit Griechenland wieder ein starker Staat wird …
Evangelia: … und auch, weil wir ein »stolzes Volk« sind. Der Premierminister hat kürzlich zudem gesagt, Griechenland sei derzeit »besetzt«.
Besetzt von wem – den Spekulanten, dem IWF, von Deutschland, von der EU?
Evangelia: Es ist eine Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg …
Yannis: … es ist eine Art postmoderner Anspielung, der Premierminister hat nicht spezifiziert, von wem Griechenland besetzt sei. Schmeißt sie aus Griechenland raus, nicht mittels Steinen, sondern durch harte Arbeit, sagte er außerdem. Man sieht, die Regierung spielt mit der nationalistischen Propaganda, und bis zu einem gewissen Grad erfolgreich. Das ist auch eine Reaktion auf die linken Parteien. Insbesondere die KKE, die kommunistische Partei, macht Propaganda gegen den »von den Amerikanern kontrollierten« IWF und die Europäische Union, gegen den Verlust der nationalen Souveränität.
Gibt es Kritik daran?
Yannis: In dem Teil des anarchistischen Milieus, das die Klassenrhetorik benutzt, auch wenn es keine Klasssenanalyse hat, gibt es viele, die diese Propaganda von einer »nationalen Einheit« kritisieren. Aber abgesehen von Synaspismos, die ein wenig kosmopolitischer als die anderen ist, betonen die anderen linken Parteien in der Regel die Rolle der »Imperialisten« von der EU und dem IWF. In der kommunistischen Partei ist es wieder anders. Sie sagt: Es ist kein richtiger Patriotismus, diese ganzen Maßnahmen zu übernehmen, der wirkliche Patriotismus ist der, der das Volk verteidigt.
Fordert die KKE nicht auch, Griechenland sollte die Eurozone verlassen?
Evangelia: Ja. Und nicht nur die Eurozone, in ihrem Programm steht, dass Griechenland die EU verlassen soll.
Dann gibt es zumindest eine seltsame Koalition zwischen griechischen Stalinisten und deutschen Rechten … Wie auch immer: Am 5. Mai soll erneut ein landesweiter Streiktag stattfinden. Wer ruft dazu auf? Und was ist zu erwarten?
Evangelia: Aufgerufen haben die GSEE, der gewerkschaftliche Dachverband für den Privatsektor, und der Dachverband für den öffentlichen Sektor, Adedy, und die lokalen Gewerkschaftssektionen ebenfalls. Ich denke, es werden sich viele daran beteiligen.
In welchen Bereichen werden Arbeitsniederlegungen erwartet?
Yannis: In einer ganzen Menge: im öffentlichen Dienst, bei den Elektrizitätswerken, bei der Bahn, im öffentlichen Nahverkehr, bei den Banken, den Kommunen, auf dem Bau etc.
Evangelia: Möglicherweise werden auch die Lehrer streiken.
Existiert in Griechenland also eine revolutionäre Situation, weil die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen?
Yannis: Wir glauben nicht, dass wir uns schon in einer revolutionären Situation befinden. Die Prolls verteidigen sich, und die kapitalistischen Vermittlungsinstanzen wie Parteien, Gewerkschaften, aber auch der Nationalismus sind immer noch da. Natürlich sind wir nicht in der Lage – und wir denken auch nicht, dass es derzeit möglich ist – vorherzusehen, was geschehen wird. Vielleicht werden die Proletarier es schaffen, die Trennungen zu überwinden, sich selbst zu organisieren, Kampfgemeinschaften gegen die staatlichen Maßnahmen zu schaffen und radikalere Inhalte des Kampfes in der näheren Zukunft zu propagieren.