Biometrische Datensammlung in Indien

Zählen gegen die Korruption

Mittels einer Volkszählung baut die indische Regierung die weltweit größte biometrische Datensammlung auf. Doch Proteste von Datenschützern sind nicht zu vernehmen.

Welche technischen Geräte besitzen Sie? Welcher Religion fühlen Sie sich zugehörig? Was für Fortbewegungsmittel benutzen Sie im Alltag? Und womit feuern Sie eigentlich Ihren Herd an?
Diese und weitere indiskrete Fragen beantworten derzeit Millionen Inderinnen und Inder im Rahmen der Anfang April begonnen Volkszählung. Registriert werden die persönlichen Lebensumstände und die Eckdaten der Biografie: Name, Geburtsdatum, Familienstand, Geschlecht. Alle Einwohner, die älter sind als 15 Jahre, werden überdies fotografiert, und ihre Fingerabdrücke werden abgenommen. Dann bekommen alle Bürger einen Ausweis samt Identifikationsnummer.
Das Unique Identification Project sorgt weltweit mit Superlativen für Aufmerksamkeit. Es handelt sich um den Aufbau der weltweit größten biometrischen Datensammlung. Etwa 2,5 Millionen Regierungsbeamte und Freiwillige werden im Land umherziehen, um in 7 000 Städten und 600 000 Dörfern fleißig Daten zu sammeln, die auf elf Millionen Tonnen Papier festgehalten werden. Mit umgerechnet rund zwei Milliarden Dollar sind allerdings auch die Kosten rekordverdächtig. Die Regierung meint aber, das Unternehmen sei das Geld wert, schließlich handelt es sich Innenminister Palaniappan Chidambaram zufolge um das »größte Projekt seit der Entstehung der Menschheit«. Bis Mitte 2011 soll die Volkszählung abgeschlossen sein.

Es gibt verblüffend wenige kritische Stimmen. Der Datenschutz ist zurzeit kein Thema in Indien. Dies ist wohl auch einer gewissen Gewöhnung an staatliche Neugier geschuldet.
Im Jahr 1872 führten die britischen Kolonialherren in Indien erstmals eine Volkszählung durch. Seither versuchten britische und nach der Unabhängigkeit im Jahr 1947 auch indische Regierungsbeamte alle zehn Jahre, die Einwohner des Subkontinents systematisch zu erfassen. Doch blieben immer erhebliche Lücken, wie die dürftigen Statistiken früherer Volkszählungen beweisen. Dieses Mal soll alles anders werden. Statt das Mammutprojekt wie gewohnt von staatlichen Stellen durchführen zu lassen, hat Premierminister Manmohan Singh einen der bekanntesten Unternehmer Indiens damit beauftragt. Bis Juli vergangenen Jahres saß Nandan Nilekani im Vorstand des indischen IT-Unternehmens Infosys, mehrere Jahre leitete er die Firma als Geschäftsführer. Massenmedien nennen ihn den »Bill Gates Indiens« und meinen das als Kompliment. Der Unternehmer kritisiert in seinem Buch »Imagining India« die diskriminierenden Kastenstrukturen in ungewöhnlicher Offenheit und preist den freien Markt als Medium zur Transformation der Gesellschaft.
Nun hat Nilekani weitgehend freie Hand bei der Organisation der Volkszählung. Premierminister Manmohan Singh überlässt dem 54jährigen Informatiker somit die Kontrolle über ein Projekt, an dessen Erfolg sich die von der Kongress-Partei geführte Regierung bei der nächsten Wahl messen lassen muss. Nilekanis Ernennung macht deutlich, dass der Premierminister den staatlichen Stellen eine erfolgreiche Durchführung des Projekts nicht zutraut, vor allem wegen der Korruption.

Gerade dieses notorische Problem des Landes spielt bei der Volkszählung eine wichtige Rolle. Derzeit müssen die meisten Inder für eigentlich kostenlose staatliche Serviceleistungen Bestechungsgeld zahlen. Ob es um den Schulbesuch der Kinder geht, man die Teilhabe an einem staatlichen Förderungsprogramm beantragt oder einen Ausweis benötigt – oft geht nichts ohne ein Schmiergeld. Besonders hart trifft dies die ohnehin Armen in den ländlichen Gebieten. Etwa 80 Prozent der 1,2 Millarden Inder müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. Erhebungen von Transparency International, einer NGO, die sich der Korruptionsbekämpfung widmet, belegen, dass fast zwei Dritteln der armen Haushalte Sozialleistungen oder der Zugang zu Schulen verweigert wurden, da sie die geforderten Bestechungsgelder nicht zahlen konnten.
Dank der Erhebung sozioökonomischer Daten aller Einwohner könnten künftig die entsprechenden Sozialleistungen von den Bürgern direkt in Anspruch genommen werden, argumentiert die Regierung. Damit soll in Zukunft auch verhindert werden, dass staatliche Unterstützungsleistungen mehrmals an die gleichen Menschen ausbezahlt oder Empfängerlisten komplett gefälscht werden. So sinnvoll eine systematische Erfassung aller Menschen, die einen Anspruch auf Sozialleistungen haben, sein mag, die grassierende Korruption wird dadurch kaum eingedämmt werden. Ein Teil des Problems sind bislang auch viele Politiker der herrschenden Kongress-Partei. Ob der Entscheidung des Premierministers, das Projekt in die Hände eines Unternehmers zu legen statt die eigene Klientel zu beauftragen, weitere Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung folgen werden, ist fraglich.
Doch erstmal gilt es, die Wartezeiten zu verkürzen, vor allem für die rasant wachsende indische Mittelschicht. Bislang ist es für die meisten Inder eine Tour de force, offizielle Dokumente, insbesondere Visa, zu bekommen. Die Behörden lassen sich Zeit, und sie lassen sich bezahlen, meist stehen beide Komponenten im kausalen Zusammenhang. Damit soll das Unique Identification Project Schluss machen. Gerade die Besserverdienenden Indiens setzen große Hoffnungen in den neuen Ausweis und die mit seinem Besitz verbundene Beschleunigung der Serviceleistungen.

Zufrieden war der Großteil der indischen Mittel- und Oberschicht wohl auch mit der ursprünglichen Entscheidung, beim Zensus keine Angaben zur Kastenzugehörigkeit zu erheben. Die Mehrheit der als politisch eher desinteressiert geltenden Mittelschicht lehnt die umfangreichen staatlichen Sonderleistungen für Angehörige benachteiligter Gruppen ab. Entscheidend für das Ausmaß der staatlichen Zuwendungen ist vor allen die Klassifizierung der eigenen sozialen Gruppe als backward caste (untere Kaste), scheduled caste (Dalits, sogennannte Unberührbare) oder scheduled tribe (indigene Gruppe). Mit speziellen Leistungen sowie Quoten in Bildungseinrichtungen und in Regierungsorganen soll den diskriminierten Gruppen der gesellschaftliche Aufstieg ermöglicht werden. Gleichzeitig werden dadurch allerdings auch kollektive Identitäten festgeschrieben statt verflüssigt.
In der vergangenen Woche kündigte Finanzminister Pranab Mukherjee an, es solle doch nach der Kastenzugehörigkeit gefragt werden. Ein formaler Kabinettsbeschluss wurde noch nicht gefasst, doch scheint die Regierung sich gezwungen zu sehen, auf die Proteste vor allem linker Organisationen zu reagieren.
Die meisten der äußerst agilen und pluralistischen indischen NGO betrachten den Staat in erster Linie als Serviceinstanz und formulieren entsprechende Forderungen, statt an der Auflösung des Kastensystems zu arbeiten. Das weit verbreitete Bild des fürsorglichen Staates ist der Grund dafür, dass eine Debatte über Privatsphäre, Datenschutz und Kontrollmöglichkeiten nicht stattfindet. Die einzigen wahrnehmbaren Gegner der Volkszählung sind derzeit die maoistischen Guerilleros. Der Rest der Bevölkerung scheint sich nicht daran zu stören, dass alle angeben müssen, ob sich eine Toilette und ein Rechner mit Internetzugang im Haushalt befinden oder ein privates Konto existiert.
»Diese Aufgabe muss gelingen, und sie wird uns gelingen«, verkündete Innenminister Chidambaram Anfang April. »Wir werden jeden Stein umdrehen, um sicherzustellen, dass wir jedes Dorf im Land aufgesucht haben.« Die meisten Inder begreifen dies eher als Versprechen denn als Drohung.