Die radikale Linke sollte sich mit der Totalitarismuskritik beschäftigen

Extrem fragwürdig

Die Motive derjenigen, die den Extremismusbegriff abschaffen wollen, sind fragwürdig. Ihre Ablehnung der Totalitarismuskritik noch viel mehr.

Gegen den Begriff des Extremismus und gegen das Extremismusmodell wendet die Initiative gegen jeden Extremismusbegriff (Inex) ein, dass Linksextreme nicht mit Rechtsextremen gleichzusetzen seien, wie es der Begriff Extremismus suggeriere. Zudem seien in der gesellschaftlichen Mitte Einstellungen anzutreffen, die Bestandteile eines rechten Weltbildes seien. Unerwähnt lässt Inex, dass es auch zwischen der gesellschaftlichen Mitte und der extremen Linken einen ideologischen und personellen Austausch gibt, und dass linke und rechte Extreme nicht selten bestimmte Ideologien teilen, etwa Antizionismus, Antiimperialismus und die negative Fixierung auf die Zirkulationssphäre und deren Vertreter und Instanzen.
Die Kritik von Inex basiert hauptsächlich darauf, ein Modell beziehungsweise einen Begriff durch den Hinweis auf das zu kritisieren, was darin nicht gefasst wird. Aber Begriffe und Modelle sind immer Abstraktionen. Entscheidend an Modellen und Begriffen ist weniger das, was sie nicht fassen, als das, was sie fassen – und ob das irgendwie relevant ist. Als Extremisten sollen im Extremismusmodell jene identifiziert werden, die die herrschende gesellschaftliche Ordnung in Frage stellen und sich nicht darauf beschränken wollen, ihre politische Position auf friedlichem und gesetzlich gebotenem Weg durchzusetzen. Dass der Staat, seine Hüter und all jene Bürger, die durch seine Abschaffung um ihre Sicherheit und Freiheit fürchten müssten, ein Interesse haben, dessen Feinde zu benennen, ist nicht richtig oder falsch, sondern logisch.

Im Extremismusmodell wird dennoch nicht allein politischer Extremismus von staatlich erlaubtem politischen Engagement abgegrenzt, sondern darüber hinaus sehr wohl zwischen linkem und rechtem Extremismus unterschieden. Das ist dem altgedienten Links-Rechts-Modell geschuldet. Dieses ist anderthalb Jahrhunderte alt, war an eine bestimmte politische Konstellation geknüpft und ist nur noch bedingt aussagekräftig. Wie stark die herkömmliche politische Ordnung erodiert, zeigt hierzulande der Bruch zwischen antiimperialistischen und antideutschen Linken. Und eine der maßgeblichsten politischen Kräfte der vergangenen zehn Jahre, der Islamismus, lässt sich schon gar nicht mehr mit dem Links-Rechts-Modell fassen.
Um eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Links-Rechts- bzw. Extremismusmodell geht es den Kritikern, die »gegen jeden Extremismusbegriff« argumentieren, aber gar nicht vorrangig. Sie wollen vielmehr in einen politischen Prozess intervenieren. Dabei verfahren sie mit umgekehrter Zielsetzung wie jene, von denen seit jeher der Extremismusbegriff instrumentalisiert beziehungsweise übernommen wird, um linke Projekte, Parteien und Initiativen in Verruf zu bringen, und aus dem demokratischen Procedere sowie der staatlichen Förderung auszuschließen.
Um antifaschistische zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte, die nicht extremistisch, aber gerade in Ostdeutschland notwendig sind, vor Verleumdung zu schützen, hätte sich Inex dazu entschließen sollen, die Instrumentalisierung des Extremismusbegriffs anzuprangern. Stattdessen glaubte sie mit der Fundamentalkritik des Extremismusmodells die Wurzel des Übels auszureißen – als gebe es gar keine politischen Kräfte, die die herrschende gesellschaftliche Ordnung in Frage stellen und bekämpfen. Genau die aber finden sich unter den Unterstützern des Aufrufs gegen den Extremismusbegriff. Dort gibt es Gruppen, die schon in ihrem Namen für den Kommunismus plädieren, Antifa-Gruppen, die auf ihren Homepages stolz ihre Bereitschaft zur Militanz ausdrücken und die Abschaffung Deutschlands fordern, und Studentengruppen, die sich als »radikal links« bezeichnen. Warum wehren sich Linke, die militant sein, den Staat bekämpfen und die herrschende Gesellschaft abschaffen wollen, dagegen, als Extremisten bezeichnet zu werden?
Um diese Frage beantworten zu können, muss man wohl einen Blick auf die ökonomische Situation der radikalen Linken werfen. Nicht nur zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte, auch die autonomen Freiräume, in denen von der Revolution geträumt wird, sind staatlich subventioniert. Auch die radikale Linke muss um staatliche Zuwendung ringen. Dem Widerspruch – zwischen Revolution und Staat – ist kaum zu entkommen, er gründet in einer stark verstaatlichten Gesellschaft. Sofern er nicht eingestanden würde, müsste man das denjenigen Gruppen anlasten, die den Inex-Aufruf unterstützen, ansonsten aber Revolution und Militanz propagieren.

Oder ist ihr militantes und revolutionäres Gebaren etwa nur Koketterie? Ereignisse wie die Krawalle zum »Revolutionären 1. Mai« legen eine solche Interpretation nahe. Für diese Veranstaltung werben Plakate mit revolutionären Parolen und viel dargestellter Gewalt. Diese ist aber nicht Mittel, um etwas Bestimmtes zu erreichen, es gibt gar kein rationales Verhältnis zur Gewalt, nicht einmal ein instrumentelles. Allen ist klar, dass aus der Demonstration nichts folgt, außer dem Erlebnis der Gewalt. Die Steine prallen an den gepanzerten Polizeifahrzeugen ab, die Feuerchen werden schnell gelöscht. Der ganze »Revolutionäre 1. Mai« scheint eine Art Reminiszenz an Zeiten zu sein, in denen die sozialistische Revolution noch keine jugendliche Omnipotenz-, sondern eine gesellschaftliche Befreiungsidee war, eine, der ein glaubhaftes soziales Versprechen innewohnte – welches im 20. Jahrhundert in keiner Weise eingelöst worden ist.
Vielleicht ist die große soziale Revolution, nachdem sie im 20. Jahrhundert auf bittere Art gescheitert ist, im 21. Jahrhundert nur noch Pop – und ihre Fans ahnen das. So wie die Groupies einer Boyband trotz größtmöglicher Emphase ahnen, dass sie gerade nur eine, vielleicht die aufregendste, Phase ihres Lebens durchmachen. Bizarr ist, dass gerade die radikale Linke unter den Jugendbewegungen diejenige ist, die am ehesten als Vorfeldorganisation des Staates bezeichnet werden könnte. Überdurchschnittlich viele radikale Linke werden bezahlte Zivilgesellschaftler, Akademiker, Psychologen, Sozialpädagogen, Rechtsanwälte – hämisch formulier: Büttel des Staates und Agenten der gesellschaftlichen Ordnung. Insofern unterstützen sie vielleicht mit Fug und Recht den Aufruf der Inex.
Im Gegensatz zu den meisten radikalen Linken haben sich die meisten Totalitarismuskritiker intensiv mit der Geschichte des Sozialismus auseinander gesetzt. Und würde sich die radikale Linke offensiv der Wirklichkeit stellen, sie würde sich mit den stärksten Argumenten der Totalitarismuskritik beschäftigen, statt sich – wie beispielsweise in der Debatte zum Schwarzbuch des Kommunismus geschehen – auf deren schwächste Momente zu stürzen. Eine solche Abwehr der Totalitarismuskritik fand auch durch Peter Nowak (16/2010) und Alexa Anders (19/2010) hier in der Jungle-World-Disko statt. In haarsträubender Missachtung der Tatsache, dass sie von denjenigen, die vor dem Nationalsozialismus geflohen sind, mitbegründet worden ist, reduziert Peter Nowak die Totalitarismuskritik auf ein Instrument zur Rehabilitierung von NS-Verbrechern.
Alexa Anders wiederholt die oft bediente Ansicht, wonach in der Totalitarismuskritik NS und Bolschewismus gleichgesetzt würden. Dabei findet sich in fast jeder totalitarismuskritischen Schrift der Verweis darauf, dass keine Gleichsetzung angestrebt sei, sondern ein Vergleich, der sowohl die Gemeinsamkeiten, die die totalitären Systeme von der bürgerlichen Demokratie unterscheiden, als auch ihre Unterschiede berücksichtigt. Und gerade einige Totalitarismuskritiker haben maßgeblich dazu beigetragen, die Unterschiede zwischen NS und Bolschewismus kenntlich zu machen – ganz im Gegensatz zur radikalen Linken, die den Nationalsozialismus lange Zeit »ökonomisch-materialistisch« als Imperialismus identifizierte und die Vernichtung der Juden als ausschlaggebendes Merkmal des NS weder adäquat darstellen noch begreifen konnte.
Die Abwehrhaltung gegenüber der Totalitarismustheorie geht mit der Weigerung einher, den real existierenden Sozialismus als Bestandteil der eigenen Tradition zu begreifen. Das Misslingen des Sozialismus wird entweder auf die Unfähigkeit des revolutionären Personals zurückgeführt oder aber die Schuld dem altbekannten Feind in die Schuhe geschoben, indem man den real existierenden Sozialismus als »Staatskapitalismus« (Tony Cliff) bezeichnet oder mit dem Verweis auf den Weltimperialismus erklärt. An der »Enttarnung« des real existierenden Sozialismus als verdecktem Kapitalismus wirkt auch Manfred Dahlmann (18/2010) mit, indem er dem real existierenden Sozialismus mit wenigen Worten eine kapitalistische Reichtumsproduktion attestiert.

Angesichts der Geschichte des Sozialismus im 20. Jahrhundert ist die Abwehrhaltung gegenüber der Totalitarismuskritik unverantwortlich, gerade auch den sozialistischen Idealen gegenüber. Der Teufel – Staat und Kapital – und seine Kennzeichen – Hunger, Armut, Ausbeutung – bestehen zwar fort und mit ihnen gute Gründe für die Revolution, aber die Inbrunst, mit der die Teufelsfratze von der radikalen Linken gezeichnet wird, verbürgt noch nicht das Gelingen der angebeteten Alternative: die freie Assoziation der Individuen. Angesichts dessen, dass der Sozialismus bisher nicht in die freie Assoziation, sondern in die Unfreiheit geführt hat, muss eine radikale Linke sich sowohl mit den Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft, die im Sozialismus suspendiert worden sind, als auch mit der Totalitarismuskritik, die diese Errungenschaften aus gutem Grund zu verteidigen versucht, auseinandersetzen.
Sicherlich existiert die Gefahr, dass eine Auseinandersetzung mit der Totalitarismuskritik die revolutionäre Zuversicht gänzlich zerstört. Aber dieses Risiko muss in Kauf genommen werden, wenn dereinst überhaupt wieder die Möglichkeit bestehen und zu wünschen sein soll, dass revolutionäre Kampfrufe nicht mehr an der Wirklichkeit abprallen wie der Stein am Wasserwerfer, und der radikale Gestus nicht mehr ohne Konsequenz und eine Insignie der Adoleszenz bleibt. Gerade Totalitarismuskritikern, die Abscheu gegen autoritäre Staaten und Kollektivismus hegen und aus diesem Motiv heraus gegen den Sozialismus des 20. Jahrhunderts anschreiben, sollte man sich als Sozialist verbunden fühlen.