Die Gedenkfeier zur Befreiung des ehemaligen KZ Neuengamme

Kränze und Rosen

Vor 65 Jahren befreiten die Alliierten die Konzentrationslager. Im Anschluss an die diesjährigen Gedenkfeiern nahmen Überlebende und deren Kinder und Enkel an einer Tagung in der Gedenkstätte Neuengamme zur Erinnerungskultur teil.

Am 3. Mai 1945 sanken die Cap Arcona und die Thielbeck. Auf diese Schiffe hatte die SS die Häftlinge des Konzentrationslagers Neuengamme bei Hamburg getrieben. Als britische Tiefflieger die Schiffe irrtümlich angriffen, fanden etwa 7 000 KZ-Häftlinge unmittelbar vor Kriegsende den Tod.
Am Mittag des 3. Mai 2010 warten fünf Schiffe im Hafen von Neustadt in der Lübecker Bucht auf die Teilnehmer der Gedenkfeier. Die Passagiere der eintreffenden Busse werden darauf hingewiesen, dass die See rau ist, dennoch treten fast alle an Bord. Als die Schiffe die Stellen erreichen, an denen die Häftlingsschiffe untergegangen sind, werden Kränze und Rosen in die Wellen geworfen.
Zum 65. Jahrestag der Katastrophe ist auch Marian T. Hawling aus Australien nach Neustadt gekommen. Er beschreibt seine Gefühle im Gespräch mit der Jungle World: »Ich versuchte, nicht zu weinen. Ich schaute ins Wasser und dachte, ich hätte auch da unten liegen können. Das war ein sehr bewegender Moment.« Nach der Schiffsfahrt hält Hawling, der polnischer Widerstandskämpfer war, eine Rede bei der Gedenkfeier am Mahnmahl in Neustadt. Er erinnert an die Häftlinge, die auf der brennenden Cap Arcona und der sinkenden Thielbeck starben. Hawling erlebte, wie im Wasser um jeden schwimmenden Gegenstand gekämpft wurde. Er selbst schwamm zu einem kleinen Rettungsfloß. »Vier Mann befanden sich bereits darauf. Sie versuchten, mich wegzuschieben. Ich kämpfte weiter, und einer der vier sagte, lasst ihn, es wird auch fünf tragen.« Hawling gehört zu den etwa 300 KZ-Häftlingen, die überlebten.

Nur wenige derjenigen, die an der Gedenkfahrt teilnehmen, waren direkte Zeugen der Katastrophe auf See. Im Bus des belgischen Häftlingsverbandes fahren noch vier Überlebende mit, die übrigen Teilnehmer sind Angehörige von Häftlingen des KZ Neuengamme. Für die Belgier ist es schon der vierte Tag ihrer Rundreise, am nächsten Tag fahren sie nach Neuengamme. Es ist der Jahrestag der Befreiung des Lagers durch die britische Armee, die das KZ menschenleer vorfand.
Nur zu besonderen Jahrestagen werden die Befreiungsfeiern so aufwendig begangen. In den Jahren dazwischen reisen kaum Politiker an, um Reden zu halten, und es fehlt auch an Zuschüssen für die Gedenkfeiern. Einladungen an osteuropäische Überlebende sind dann kaum finanzierbar.
Am 18. April wollte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf der Befreiungsfeier des KZ Ravensbrück sprechen, doch ihre Anreise wurde durch die Vulkanaschewolke aus Island verhindert. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) reagierte bei dieser Gedenkfeier erstmals öffentlich auf die seit Jahren gestellte Forderung nach einem Gedenkort für das KZ Uckermark. Es war das einzige Jugendkonzentrationslager, das gezielt für Mädchen errichtet wurde, und lag in unmittelbarer Nähe zum KZ Ravensbrück. Platzeck versprach den Initiativen eine »angemessene Lösung« für das unzugängliche Gelände.
»Ihr seid nicht vergessen!« – diese Inschrift steht auf einer Stele, die von der Lagergemeinschaft Ravensbrück am Ufer des Schwedtsees errichtet wurde. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Gemeinde Fürstenberg erneut erwägt, Teile des Lagergeländes – nämlich das Ufer – für die Fremdnutzung zu öffnen.

Unter weniger kontroversen Vorzeichen verläuft die Feier im ehemaligen KZ Neuengamme. Hier endete die Nachnutzung des Geländes mit zwei Gefängnissen in den Jahren 2003 und 2006. Die Amicale Internationale de Neuengamme, eine Vereinigung überlebender Häftlinge, zeigt sich darüber zufrieden. Die Gedenkfeiern verlaufen würdig, und die Gäste werden im Rathaus empfangen, was auch den gewünschten Eindruck hinterlässt.
Aber die Stadt Hamburg hatte jahrzehntelang das Gedenken verhindert und die Überlebenden ignoriert und düpiert. Dass Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust den Überlebenden für ihren Einsatz für die Gedenkstätte dankt, erscheint nur im Vergleich zu früheren Konfrontationen als noble Geste. Der Präsident der Amicale Internationale de Neuengamme, Robert Pincon, beschreibt in seiner Rede die Auseinandersetzungen um die Einrichtung einer Gedenkstätte als »verbissene Kämpfe« – Worte, die man von deutschen Politikern nie hören würde.
Eine im Anschluss an die Gedenkfeiern ausgerichtete Tagung des Studienzentrums der Gedenkstätte verspricht, das Zeugnis der Überlebenden gegen den Trend der Musealisierung und Historisierung in das Zentrum des Interesses zu rücken.
Hédi Fried ist mit zwei Enkeln für die Tagung »Überlebende und ihre Kinder im Gespräch« aus Schweden angereist. 1944 wurde sie mit ungarischen Juden und Jüdinnen nach Auschwitz-Birkenau deportiert und danach zur Zwangsarbeit in ein Hamburger Außenlager des KZ Neuengamme verschleppt. Ihre Befreiung erlebte sie in Bergen-Belsen, anschließend kam sie zur Rekonvaleszenz nach Schweden. Dort zehrte die nationale Erinnerung lange von dem Ruhm, mit den sogenannten »weißen Bussen« vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst skandinavische und später auch andere Häftlinge aus den Konzentrationslagern herausgeholt zu haben. Neuere Forschungen haben am Glanz der Rettungstat gekratzt. So soll Graf Folke Bernadotte, der als Vizepräsident des Schwedischen Roten Kreuzes die Hilfsaktion organisiert hatte, zu den Helfern gesagt haben: »Nehmt die Juden zuletzt!«

Im Gespräch mit der Jungle World berichtet Fried von ihren vergeblichen Versuchen, über ihre Geschichte zu sprechen. »Als wir erzählen wollten, wollte keiner zuhören. Sie hatten keine Geduld, es zu hören, denn es war zu schrecklich. Uns wurde entgegnet: Wenn ihr im KZ wart, so muss es doch einen Grund dafür gegeben haben.« Fried musste erleben, dass auch in Schweden der Antisemitismus fortwirkte. Die schwedische Unterstützung für das NS-Regime wurde verdrängt und die Isolation der Opfer setzte sich fort. Dass heute Literatur über den Holocaust zum Unterrichtsstoff an schwedischen Schulen gehört, ist auch Hédi Frieds Engagement zu verdanken. Erst mit ihrem in den achtziger Jahren publizierten Buch »Nachschlag für eine Gestorbene« machte sie ihre Erfahrungen öffentlich, über die sie zuvor nur mit ihrem Mann und ihrer Schwester gesprochen hatte.
In einigen Ländern Osteuropas ist das immer noch nicht möglich. Ljudmila Subowskaja aus der Ukraine gibt ihr Wissen nur im Kreis ihrer Bekannten weiter, erzählt sie auf dem Podium. Vom Staat, der seine finanziellen Hilfen kürzt, erwarte sie nichts. Ihre Kraft investiere sie in eine Selbsthilfeorganisation, die sich darum bemüht, die materielle Situation der Überlebenden zu verbessern. Als Fried sie fragt, ob es denn in der Ukraine eine Erinnerung an ungarische Jüdinnen gebe, die in die Ukraine verschleppt und getötet wurden, kann sie nur verneinen.
Marian T. Hawling schwieg 50 Jahre über seine Erlebnisse, erst die Nachfragen seines Sohnes brachten ihn dazu, sich der Erinnerung auszusetzen. »Ja, ich erinnerte mich – aber wollte ich mich denn erinnern, zum Beispiel an eine grausame Exekution? Ich habe nicht davon gesprochen und es aus meinem Leben verbannt.« Lediglich die jüdische Gemeinde in Australien forcierte ein Gedenken an die Lager. Hawling, der Katholik ist, sagt: »Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen ich von meiner KZ-Haft erzählte, sagte man mir: Oh, ich wusste gar nicht, dass du Jude bist.«
Vertreter wichtiger Länder, in denen es große Häftlingsverbände gibt, fehlen bei der Konferenz der Gedenkstätte Neuengamme. Von Terminschwierigkeiten, vor allem bei der vielbeschäftigten »Zweiten Generation«, hört man. Vielen sind auch die Erinnerungen an die KZ-Haft noch zu nah, als dass sie vor einem großen Publikum darüber berichten möchten, wie sie in ihrem familiären Umfeld damit umgehen. So ergreifen vor allem diejenigen das Wort, die bereits professionelle Erfahrungen mit der Holocaust Education gesammelt haben. Oder Überlebende, die wie Emil Lakatos aus Ungarn – im Alter von 90 Jahren – in Auseinandersetzung mit einer wachsenden rassistischen und antisemitischen Bewegung stehen.
Ljudmila Subowskaja ist nach dem Ende der Tagung in Neuengamme am 8. Mai zu einer weiteren Feier eingeladen. An dem Ort, wo sie in Hamburg-Wandsbek für die Firma Dräger Sklavenarbeit leisten musste, wird eine kleine Gedenkstätte eingeweiht. Die Veranstaltung ist gut besucht. Eigentlich gibt es diese Gedenkstätte schon, doch die Bewohner der neuen Siedlung auf dem ehemaligen Firmengelände wehren sich gegen das Gedenken auf ihrem Privatbesitz. Und so wird eine zweite Stätte eingeweiht, diesmal auf öffentlichem Grund. Zwei Tage später sind die Glastafeln mit den Namen der Häftlingsfrauen demontiert. Von den Tätern gibt es keine Spur. Waren es Nazis, die im Vormonat die Gedenkstätte schon zweimal mit Hakenkreuzen und antisemitischen Parolen beschmiert hatten? Oder Anwohner, die im vergangenen Jahr die Gedenkstätte in Wandsbek beschädigten, indem sie den letzten Überrest des Lagers, einen Waschtrog, entfernten?