Über das Buch von Shlomo Sand »Die Erfindung des jüdischen Volkes«

Wir sind kein Volk!

Der israelische Historiker Shlomo Sand kritisiert jüdisch-nationale Mythen und behauptet, dass die Juden kein Volk seien. Seine Gedanken findet er ungeheuer provokant.
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Wie wird man eigentlich Baske? Geht das? Kann man durch Heirat einer Baskin bzw. eines Basken oder dadurch, dass man eine gewisse Anzahl von Jahren im Baskenland gelebt hat, oder durch die Absolvierung eines Baskisch-Tests zum Basken werden? So wichtig für Basken ihre baskische Identität ist, so wenig gibt es eine eindeutige Antwort auf die Frage, wer denn nun eigentlich ein Baske sei. Oft wird die außergewöhnliche baskische Sprache als Haupt­identifikationsmerkmal genannt. Das Problem ist: Nur rund 37 Prozent der Basken können sie fließend sprechen. Zuweilen wird das mit dem Baske-Sein dann eben sehr pragmatisch geregelt: Beim Fußballverein Athletic Bilbao werden grundsätzlich nur Basken verpflichtet. Um für den Club als Baske zu gelten, muss ein Spieler entweder in baskischen Gebieten geboren worden sein oder seit seiner frühen Jugend in baskischen Vereinen gespielt haben oder baskische Vorfahren nachweisen, wofür wiederum der richtige Familienname und eine triftige Familiengeschichte als Nachweise ausreichen.
Wir ahnen schon, hier wird anhand von Herkunft und Ethno-Esoterik ein furchtbarerer Identitätsbrei gerührt. Gibt es vielleicht am Ende gar keine Basken? Sind sie womöglich gar kein Volk? Fragen wir jemanden, der es wissen muss. Zum Beispiel einen Richter am Stuttgarter Arbeitsgericht: »Unter ethnischer Herkunft ist mehr zu verstehen als nur regionale Herkunft.« Um als »Volksstamm« anerkannt zu werden, bedürfe es auch einheitlicher Merkmale in Tradition, Sprache, Religion, Kleidung oder Ernährung. Viele der Fußballer von Athletic Bilbao hätten bei diesem Arbeitsrichter also wohl keine Unterstützung gefunden, hätten sie zum Beispiel gegen ihre Nichteinstellung klagen müssen. Aber es ist müßig, darüber zu spekulieren, schließlich wurden sie ja angestellt, und außerdem ging es in dem Stuttgarter Verfahren, in dem ein Richter Mitte April über die Definition von Volk und Ethnie zu beschließen hatte, natürlich auch nicht um Basken, sondern um »Ossis«. Ostdeutsche, erklärte der Richter, hätten in der DDR nur wenig mehr als eine Generation, nämlich 40 Jahre lang, eine von der Bundesrepublik zu unterscheidende Entwicklung genommen. Deshalb seien Ossis kein eigener Volksstamm, keine Ethnie, und man könne daher auch nicht als »Ossi« diskriminiert werden.
Wie gesagt, der Arbeitsrichter hatte nur über »Ossis« zu befinden, aber auch die Palästinenser zum Beispiel hätten keine Chance, bei ihm als Volk durchzugehen. Keine eigene Sprache, Religion, Kleidung oder Ernährung, selbst ihre Leitkultur, den Judenhass, müssen sie mit anderen Völkern der Welt teilen. Außerdem haben die palästinensischen Gebiete nach dem Sechs-Tage-Krieg nur wenig mehr als eine Generation, nämlich 43 Jahre lang, eine von Jordanien bzw. Ägypten unterschiedliche Entwicklung genommen.
Wann also wird ein Volk ein Volk? Die Unmöglichkeit, dies zu definieren, ist zugleich die Antwort: Es gibt keine Völker, Nationen sind Kons­trukte, und Kulturen sind relativ. Ein Punk in Moskau und ein Punk in Tokio, einer in Berlin und einer in Madrid, sie pflegen alle dieselbe Kultur, und gar nichts sagt diese Kultur über ihre Herkunft oder gar »Ethnie« aus. Wer anfängt, in der Ethno-Soße nach Wahrheiten zu suchen, der kann nur in der Esoterik, in völkischem Denken oder schlicht im Nonsens landen. Volk, Nation, Ethnie und Kultur – es sind Zuschreibungen oder Selbstdefinitionen, die irgendwie eine bestimmte Gemeinschaft vom Rest abgrenzen sollen. Sie entstehen nicht einfach irgendwie, sie werden gemacht.
Was für alle Völker, Nationen und Kulturen gilt, gilt auch für die Juden. Doch während es kaum Literatur über die Probleme des Baske-Seins gibt, füllen Bücher über die Konstruktion jüdischer Identität halbe Bibliotheken. Nicht zuletzt auch zahlreiche jüdische Schriftsteller beschäftigen sich in ihren Werken immer wieder mit dem »Geheimnis« des Jüdisch-Seins.
Dass Jüdinnen und Juden keine klar definierbare »Herkunft« haben, keine »Heimat«, genau das machte sie über Jahrhunderte hinweg, ähnlich wie die Roma, besonders suspekt, war Futter für den Antisemitismus, bzw. den Antiziganismus. Es kann nicht verwundern, dass Juden nun, da sie seit gerade mal 62 Jahren erstmals einen eigenen Staat haben, ebenfalls versuchen, ihre »Herkunft« zu definieren, da ihre »Herkunftslosigkeit« ihnen doch so viel Ärger eingebracht hat. Inzwischen ist der tragische Umstand eingetreten, dass ihnen nun neben ihrer Heimatlosigkeit von den Antisemiten zusätzlich auch noch ihre Heimatsuche vorgeworfen wird.
In diesen Diskurs hat sich jetzt auch Shlomo Sand eingemischt. Der israelische Historiker hat im Jahr 2008 ein Buch vorgelegt, das nun unter dem Titel »Die Erfindung des jüdischen Volks« auch auf Deutsch erschienen ist und in dem er den Herkunfts-Mythos der Juden radikal de­konstruiert. Das Buch hat in Israel viel Zuspruch gefunden. Es stand 19 Wochen lang auf der Bestsellerliste für Sachbücher, aber es hat auch Protest ausgelöst. Noch immer werden gelegentlich Vorlesungen von Shlomo Sand an der Universität Tel Aviv von seinen Kritikern gestört.
Das Buch beginnt mit drei persönlichen Geschichten, drei Biografien von Menschen, die auf die eine oder andere Weise irgendwie Juden oder Israelis sind – und auch wieder nicht. Sehr erhellende Geschichten, zeigen sie doch die Beliebigkeit dieser Zuschreibungen, und wie sehr sie an historische, soziale und politische Gegebenheiten geknüpft sind.
Sand erklärt sachlich, weshalb der »Galut«, die Vertreibungsgeschichte, nach der das Volk der Juden von den Römern aus dem Heiligen Land vertrieben worden sei und seitdem überall auf der Welt verstreut in der Diaspora lebe, in der Art, wie ihn die israelische Nationalgeschichte lehrt, nicht haltbar bzw. eben ein Mythos ist. Als das Land von den Arabern erobert wurde, seien viele Juden zum Islam konvertiert und hätten sich assimiliert. Daher stammten die heutigen palästinensischen Araber eher von den alttestamentarischen Juden ab als etwa die ostmitteleuropäischen Juden. Eine These, die 1929 übrigens bereits – ganz unaufgeregt – der spätere israelische Staatspräsident Yitzhak Ben-Zvi und der spätere Premierminister David Ben Gurion aufstellten.
Sand zeigt schlüssig, weshalb es Nonsens ist zu glauben, alle Juden stammten direkt von Abraham ab, wie es jüdische Fundamentalisten glauben, unter anderem anhand von Genen beweisen zu können. Er erklärt, wie sich das Judentum vor allem durch Konversion ausbreitete. Die war nämlich früher weit weniger schwierig – und ist dies in der Diaspora immer noch – als heute in Israel. Und auch missionarische Epochen des Judentums hat es gegeben.
Das alles sind keine neuen Erkenntnisse, aber es sind tatsächlich Dinge, die manche in Israel nicht gerne hören. Wie jeder andere Staat versucht auch der jüdische, mithilfe von Mythologie eine Bindung an ein Stück Land und eine gemeinsame nationale Identität zu konstruieren, und wie in jedem anderen Staat auch sind solche Mythen eben eher Geschichten als Geschichte. Wobei Sand allerdings zurecht darauf hinweist, dass in Israel deutlich stärker als in den meisten anderen westlichen Staaten darauf beharrt wird, dass es sich um wissenschaftliche Tatsachen handele. Sand beschäftigt sich ausführlich mit der Konstruktion von Völkern und Nationen, und er erklärt, dass es weder ein jüdisches noch ein deutsches, ein englisches oder ein französisches Volk gibt. Zwar gebe es das Judentum, doch sei es nichts als eine Religion.
Und beinahe würde das stimmen, wenn die Zuschreibung zu einem Volk, zu einer Rasse oder Ethnie und gerade die zum Judentum nicht auch zuweilen von außen käme. Shlomo Sand leugnet nicht, dass es eine »säkulare jüdische Identität« gibt, und zitiert Ilja Ehrenburg, der gesagt habe, er werde sich selbst so lange stolz als Jude bezeichnen, wie es auch nur einen einzigen Antisemiten gebe. In dieser Logik steht jedoch auch das israelische »Rückkehrrecht« – welches Sand wiederum radikal ablehnt –, das jedem Menschen, der nach den Nürnberger Rassegesetzen als Jude gilt, die Einwanderung nach Israel erlaubt und die israelische Staatsbürgerschaft garantiert. Abgelehnt wird das Gesetz in Israel vor allem auch von den Orthodoxen, weil auf diesem Wege viele Einwanderer nach Israel kommen, die nach jüdischem Glauben nicht jüdisch sind, nämlich auch solche, bei denen nur der Vater oder Großvater jüdisch war. »Wer jüdisch genug war, um von den Nazis vergast zu werden, ist auch jüdisch genug, um vom jüdischen Staat aufgenommen zu werden«, hat Michael Jankelowitz von der Jewish Agency diese Rechtsauffassung einmal erläutert. Sand hingegen fordert, »das Rückkehrgesetz aufzuheben und in ein Asylrecht zu verwandeln, das verfolgten jüdischen Flüchtlingen Schutz bietet«. Doch müsste er hier nicht selbst definieren, wann ein Flüchtling ein »jüdischer« ist? Das hält er aber nicht für notwendig.
So ist manches halbseiden, polemisch und vage in der Argumentation von Shlomo Sand, doch wirklich bedenklich ist vor allem, dass der umstrittene Historiker mit seinem Werk erklärtermaßen Politik machen will. Durch den Beweis der Nicht-Existenz des jüdischen Volkes möchte er erreichen, dass die Benachteiligung israelischen Araber in Israel gegenüber den Juden ein Ende findet. Dazu kritisiert er die israelische Demokratie, sie sei nur eine »ethnische Demokratie«. So etwas ist Wasser auf die Mühlen antizionistischer »Apartheid«-Schreier. Tatsächlich finden sich im Internet einige entsprechende Rezensionen. Dennoch kann man dies kaum Shlomo Sand vorwerfen. Warum soll er als Israeli nicht den Zustand der Demokratie in seinem Land hinterfragen und kritisieren? Zumal Kritik ja auch angebracht ist. Tatsächlich gibt es eine alltägliche Diskriminierung der arabischen Bevölkerung in Israel und keine vollständige Rechtsgleichheit. Doch ebenso könnte und sollte man den Zustand der Demokratie – nur als Beispiel – in Deutschland hinterfragen, wo über acht Prozent der Gesamtbevölkerung, weil sie keine deutsche Staatsangehörigkeit haben, nicht einmal wichtige Bürgerrechte wie das Wahlrecht besitzen. Ein Recht übrigens, das israelische Araber, die 20 Prozent der Bevölkerung Israels stellen, sehr wohl haben.
Sein politisches Anliegen mag prinzipiell gerechtfertigt sein, doch was man Sand vorwerfen muss, ist die Hemdsärmligkeit, mit der er – gerade auch außerhalb Israels – über das redet, was ihm doch so wichtig ist. Macht er sich in seinem Buch für einen binationalen Staat stark, in dem Israelis und Palästinenser gleichberechtigt leben, erklärt er in Interviews, er sei für die Zwei-Staaten-Lösung: »Zwei Staaten für zwei Gesellschaften, nicht für zwei Völker«, erklärt er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, er sei »Antizionist«, aber auf keinen Fall gegen das Existenzrecht Israels, sagt er der Frankfurter Rundschau, er stelle zwar »die jüdisch-nationalen Mythen radikal in Frage«, sei aber »nicht anti-zionistisch«, vielmehr sei er »post-zionistisch« und akzeptiere »eine jüdisch-israelische Hegemonie in den Grenzen von 1967«.
Was der Autor, der der linkszionistischen Meretzpartei nahe steht, am Ende wirklich will, bleibt unklar. Shlomo Sand macht mit Wissenschaft Politik, ohne dabei politisch eindeutig Position zu beziehen. Und das ist, gerade auch wenn es um Israel geht, ein Problem.

Shlomo Sand: »Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand«. Propyläen-Verlag, Berlin 2010, 506 Seiten, 24,95 Euro