Die neue Rolle der Türkei im Nahen Osten

Der starke Mann vom Bosporus

Erdogans AKP steckt in einer innenpolitischen Krise und sucht den Ausweg in der Außenpolitik. Die Unterstützung für die Aktivisten der »Freedom-Flottila« und Erdogans rhetorische Attacken auf den ehemaligen Partner Israel sollen seiner Partei die Unterstützung islamischer wie nationalistischer Kreise sichern und die Türkei als neue Großmacht des Nahen Ostens ins Spiel bringen.

Die große Vision von Recep Tayyip Erdogan, die er zu gerne so schnell wie irgend möglich in die Tat umsetzen würde, sieht offenbar so aus: Begleitet von türkischen Kriegsschiffen läuft er, heroisch im Bug eines Blockadebrechers der »Gaza Freedom Flotilla« stehend, im Hafen von Gaza ein, riskiert sein Leben für die angeblich in Gaza darbende Bevölkerung und zeigt zugleich den Israelis, wer jetzt im Nahen Osten das Sagen hat. Unter dem tosenden Beifall islamischer Massen zwischen Marrakesch und Islambad ziehen in Europa und den USA Politiker und Medien den Hut vor so viel Courage und applaudieren dem so herbeigeführten Ende von Israels Recht auf Selbstverteidigung. So sähe er dann aus, ein Sieg der Türkei, der zugleich einer des weltweiten Islam wäre. An den Gestaden Gazas wäre der nächste große »Sultan« geboren, wie Le Monde Erdogan bereits nicht ohne Spott bezeichnete.

Und um genau diesen Posten scheint es Erdogan dieser Tage vornehmlich zu gehen, ist doch der große Thron in der Region momentan vakant: Saddam gehängt, Arafat tot, und seit dem Juni vergangenen Jahres schwächelt auch Mahmoud Ahmedinejad. Das entstandene Vakuum wünscht der türkische Premierminister nun offenbar zu füllen, denn schmachten nicht die depravierten Massen in der sogenannten islamischen Welt nach nichts so sehr wie nach einer neuen Lichtfigur? Wie Barry Rubin schon vor Jahren in seiner Arafat-Biografie zu Recht feststellte, wiederholt sich so diese traurige Geschichte im Nahen Osten ad infinitum. Es fehlt schlicht an der Erkenntnis, dass es mit diesen vermeintlich großen Gestalten nie wirklich weit her war und sie alle eher als ziemlich triste Figuren in die Annalen der Geschichte eingegangen sind, die zuvorderst die Misere der Region nur verschlimmert haben.
Anwartschaft auf diesen Posten nun kann selbstredend nur reklamieren, wer mit lautstarkem Gehetze gegen Israel auftritt, den Staat mindestens ein Geschwür nennt und ihn als größtes Hindernis auf dem Weg zum Weltfrieden denunziert. Deshalb hätte noch vor zehn Jahren wohl niemand ernsthaft geglaubt, dass es ausgerechnet ein türkischer Premierminister sein würde, der sich zum großen Anführer des Nahen Ostens aufschwingen wolle. Jahrzehntelang nämlich hatte das türkische Establishment für die ganze Region wenig mehr als Naserümpfen übrig, man richtete sich nach Europa aus, war recht eng mit Israel alliiert und zeigte wenig Interesse an den politischen Kapriolen der arabischen Welt, solange sie einen, wie im Falle der Kurden im Irak, nicht unmittelbar betrafen.

Diese politische Ausrichtung sollte sich mit Machtantritt der AKP ab 2002 grundlegend ändern. Zielte deren innenpolitische Ausrichtung auf eine langfristig angelegte Islamisierung der türkischen Gesellschaft bei gleichzeitiger Schwächung der alten kemalistischen Eliten in Politik und Militär, so suchte man außenpolitisch größeren Einfluss in der Region zu gewinnen. Entsprechend hochgesteckte Ziele verfolgte die AKP-Regierung: Alleine in den vergangenen drei Jahren versprach man, Frieden zwischen Syrien und Israel zu vermitteln, den israelisch-palästinensischen Konflikt beilegen zu helfen und nebenbei auch noch als Makler den Iran zu Zugeständnissen im Atomstreit zu bewegen. Garniert wurden diese Initiativen mit immer schärferen Verurteilungen Israels und ausgestreckten Händen sowohl in Richtung Iran und Hizbollah als auch in Richtung Sudan.
Die neue US-Administration unter Barack Obama nahm das Angebot nur zu gerne an. Obamas vermeintlich neue Nahost-Politik begann denn auch mit einer Rede in Istanbul gleich zu Beginn seiner Amtszeit. Und als was wurde die Türkei derweil nicht alles gepriesen: als moderat, als Brücke zwischen Ost und West und als einzige islamische Demokratie in der Region. Nur: Aus keiner der großen türkischen Initiativen ist bislang etwas geworden, die letzte – der Auftritt Erdogans mit dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva in Teheran – erwies sich im Nachhinein sogar als krasser Misserfolg.
Weder waren die arabischen Staaten besonders glücklich über die türkische Einflussnahme in
ihrer Region, noch trauten die Israelis Erdogan, der sie bei jeder Gelegenheit aufs schärfste verurteilte. Und innenpolitisch droht nun noch die Aussöhnung mit den Kurden zu scheitern, eines der erklärten Reformprojekte der AKP.
Derweil betrachten die alten, um ihren Einfluss bangenden kemalistischen Eliten nicht nur die schleichende Islamisierung der Türkei im Inneren mit wachsender Sorge. Auch die außenpolitische Annäherung an das Regime in Teheran, die gutnachbarschaftlichen Verhältnisse mit dem ehemaligen Gegner Syrien und die offenbare Nähe der AKP zu international agierenden Islamisten stießen auf keine Begeisterung. Auch ökonomisch steht die Türkei nicht gerade gut da. Die vorigen Kommunalwahlen haben gezeigt, dass Erdogan deutlich an Popularität verloren hat, Umfragen zufolge steht die AKP nur noch um wenige Prozentpunkte besser da als die Oppositionspartei CHP.

Doch Erdogan und seine Parteifreunde glauben weiter fest an ihre Mission, und je prekärer die Lage im Inneren wird, desto leichter fällt es, außenpolitisch alle Zurückhaltung fahren zu lassen. Mit der offenen Unterstützung der von radikalen Islamisten mitinitiierten Gaza-Hilfsflotille ist ihm ein Coup gelungen, der ihm zumindest kurzfristig in der Türkei eine Welle der Sympathie verschafft. Dass er dabei willentlich die diplomatischen und militärischen Beziehungen mit Israel aufs Spiel setzt, ja einen offenen Konfrontationskurs anstrebt, erscheint momentan kein zu hoher Preis. Indem das antisemitische und islamische Ressentiment auf der Straße geschürt wird, schwächt man unter anderem weiter das militärische Establishment, das an einer engen Kooperation mit Israel interessiert bleibt. Und im kommenden Jahr stehen Wahlen an, man kann sich schon jetzt ausmalen, mit welchen Slogans die AKP sie zu gewinnen versuchen wird. Schließlich teilen Umfragen zufolge nicht wenige laizistische Türken den Hass auf Israel mit ihren gläubig-muslimischen Landsleuten.

Ob der Türkei die angestrebte Vormachtsposition in der islamisch-sunnitischen Welt außenpolitisch langfristig nützt, sei dahingestellt. Daran zweifeln dieser Tage etwa auch die Kommentatoren der eher kemalistisch ausgerichteten Hürryiet, die deshalb, auch wenn sie sich hinter die Regierung stellen, doch eher zur Besonnenheit aufrufen. Mit großem Unbehagen verfolgen sie, wie Erdogan jetzt ganz offen mit radikalen Jihadisten paktiert, deren erklärtes politisches Ziel nicht eine islamisierte türkische Republik, sondern eine islamische Republik, wenn nicht gleich ein Kalifat ist.
Und die Anführer der PKK, die gerade ihren einseitigen Waffenstillstand für beendet erklärt hatten, dürften mit Erstaunen betrachten haben, wie sich das neue islamistisch-türkische Bündnis unter einem Meer von Türkei-Flaggen auf diversen Pro-Gaza-Demonstrationen konstituiert. Hatte die PKK doch früher stets den israelischen Imperialismus kritisiert, muss sie nun in der AKP-nahen Zaman lesen, die PKK habe sich mit Israel gegen die Türkei verschworen. Langfristig gesehen dürfte also offen sein, wie sich Erdogans Politik auf die unzähligen ungelösten innertürkischen Konflikte auswirken wird.
Zwar mag er als selbsterklärter Kopf einer islamischen Weltbewegung gegen den Judenstaat gerade enorm punkten, nur lebt die Türkei eben nicht von der Ölrente und kann sich deshalb, anders als etwa der Iran, auf längere Sicht eine völlig vom Wahn diktierte Politik kaum leisten, will sie auch ökonomisch eine bedeutende Macht bleiben. Welche geostrategischen Interessen sie aber an einer gestärkten Hamas haben sollte, bleibt weitgehend schleierhaft. Es fällt sowohl schwer, sich vorzustellen, wie denn etwa eine funktionsfähige Achse Ankara-Gaza-Teheran im Detail aussehen könnte, als auch, wie dann
die USA weiterhin als enger Verbündeter und als Fürsprecher für die Türkei in der Nato dienen sollen.
Aber auch in den meisten Hauptstädten der arabischen Welt zeigt man sich wenig glücklich über die als islamischen Neo-Osmanismus wahrgenommene Politik der AKP, fürchtet man doch den Einfluss des Iran weit mehr, als man Israel hasst. Vor allem Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien unterstützen, wenn auch unter öffentlicher Beteuerung des Gegenteils, Israels Politik gegen die Hamas, die man als fünfte Kolonne des Iran betrachtet. Und in keinem arabischen Staat sieht man gerne Demons­trationen von Islamisten auf den Straßen – es sei denn, man hat sie selber initiiert.

Selbst die Palästinenische Autonomiebehörde zeigt sich angesichts des türkischen Engagments alles andere als erfreut. Am Montag zitierte die Jerusalem Post einen Vertreter der Autonomiebehörde in Ramallah, die Behörde sei mit der türkischen Haltung gegenüber der Hamas und insbesondere mit deren Forderung, die Blockade des Gaza-Streifens aufzuheben, »unglücklich«. Die Politik der Türkei ermutige die Hamas und untergrabe die Autorität der Autonomiebehörde, so der Vertreter. »Natürlich wollen wir, dass die Blockade aufgehoben wird, aber die Hamas muss ihren Putsch im Gaza-Streifen beenden und die ägyptischen Vermittlungsbemühungen für eine Versöhnung mit der Fatah akzeptieren.«
Den palästinensischen Legislativrat Azzam al-Ahmed zitiert DPA mit den Worten, er sei gegen eine Beendigung der Blockade, so lange die Hamas den Konflikt mit der Fatah nicht beilege. Al-Ahmed betonte, es gebe keine humanitäre Krise in Gaza, da die palästinensische Autonomiebehörde Hilfsgüter durch israelische Grenzübergänge nach Gaza liefere. Auch Mahmoud Abbas, Präsident der Autonomiebehörde, äußerte am Montag bei einem Besuch in Istanbul gegenüber Erdogan seine Besorgnis angesichts der Annäherungen der Türkei und der Hamas.

Kurzum, und dies gilt für Erdogan wie für alle anderen großen Führer in Nahost vor ihm: Geht es um große Reden und Destruktivität, sind sie äußerst innovativ, sollen sie aber eine Perspektive entwickeln, die darüber hinausreicht, sieht es anders aus. Gerade deshalb ist es dieser Tage auch so einfach, Mahmoud Ahmedinejad den Rang als Nahost-Führer abzulaufen. Der konnte dieser Tage in Teheran noch nicht einmal eine Kundgebung abhalten, wusste er doch zu gut, wie diese ausgehen würde. Nämlich weniger als Demonstration gegen das »zionistische Krebsgeschwür«, denn als Protestveranstaltung gegen seine eigene Regierung.