Matthias Jochheim erzählt im Gespräch, was er an Bord der »Mavi Marmara« erlebt hat

»Ich selbst habe lediglich ein paar kurze Holzknüppel gesehen«

Eine der Verantwortlichen der Aktion »Free Gaza«, Greta Berlin, hatte bereits vor dem Zwischenfall auf See erklärt: »Bei dieser Mission geht es nicht darum, humanitäre Güter zu liefern, es geht darum, die Blockade zu brechen.« War das ganze Unternehmen also lediglich ein Propagan­dacoup, um Israel zu diskreditieren? Der Frankfurter Arzt Matthias Jochheim, stellvertretender Vorsitzender der ärztlichen Friedensorganisation »Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung« (IPPNW), war an Bord der »Mavi Marmara«.

Was war das Ziel der Aktion »Free Gaza«?
Sie sollte helfen, die völkerrechtlich illegale Blockade des Gaza-Streifens durch Israel zu beenden. Wir wollten unseren zivilgesellschaftlichen Beitrag dazu leisten.
Wie haben Sie die Ereignisse auf der »Mavi Marmara« am frühen Montagmorgen erlebt?
Die israelische Marine hat eine Reihe von Soldaten auf dem Schiff abgesetzt, die erhebliche Gewalt angewendet haben. Selbst beobachten konnte ich das allerdings nicht, weil ich zu dieser Zeit nicht mehr auf dem Deck war, sondern zwei Stockwerke tiefer. Nach dem israelischen Angriff habe ich Verwundete versorgt, und davon gab es eine ganze Menge.
Die israelische Marine hat die Flotte mehrmals aufgefordert, den Kurs zu ändern. Warum wurde darauf nicht eingegangen? Und weshalb wurde zuvor das israelische Angebot abgelehnt, den Hafen von Ashdod anzusteuern und die Fracht dort den israelischen Behörden zum Weitertransport nach Gaza zu übergeben?
Es war das erklärte Ziel des Konvois, nach Gaza zu gelangen und dort die Hilfsgüter zu entladen. Wir wollten sie den palästinensischen Menschen übergeben und nicht den israelischen Behörden. Unsere Aktion war eine Form des zivilen Ungehorsams gegen die Blockade. Wenn die Israelis die Schiffe auf hoher See angehalten und nach Waffen durchsucht hätten, wäre das von internationalem Recht gedeckt gewesen. Das, was sie stattdessen getan haben, war es nicht.
Videos zeigen, wie mehrere Männer die Soldaten der israelischen Spezialeinheit massiv ­angreifen, unter anderem mit Eisenstangen. Außerdem sollen zwei israelischen Soldaten ihre Waffen entwendet worden sein. Sehen so Gewaltfreiheit und ziviler Ungehorsam aus?
Sie haben sicher schon gehört, dass man Videos manipulieren kann, oder? Man sollte diesem Material misstrauen.
Das heißt, Sie bestreiten seine Echtheit?
Es gab einen Konsens an Bord, ausschließlich gewaltfreien, zivilen Ungehorsam zu leisten, und ich habe keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser Konsens gebrochen wurde. Aber vergessen Sie nicht, dass auf dem Schiff neun Menschen getötet wurden. Wenn bei Ihnen nachts jemand einbricht, lassen Sie das ja auch nicht einfach geschehen.
Es sind also keine Eisenstangen und Messer eingesetzt worden?
Ich selbst habe lediglich ein paar kurze Holzknüppel gesehen, mit denen sich einige der Angegriffenen verteidigt haben könnten, mehr nicht.
Inzwischen gibt es Fotos, auf denen man türkische Aktivisten mit Eisenstangen sehen kann. Es ist auch offensichtlich, dass drei israelische Soldaten zusammengeschlagen und unter Deck verschleppt worden sind.
Ich habe zwei der drei festgesetzten israelischen Soldaten unter Deck gesehen, sie waren nicht schwer verletzt und wurden in der Zeit, die ich dort war, korrekt behandelt.
Könnte es nicht sein, dass ein Teil der Besatzung eine gewaltsame Auseinandersetzung mit den israelischen Soldaten bewusst herbeigeführt hat? Türkische Zeitungen berichten, mindestens drei der getöteten Türken auf der »Mavi Marmara« hätten gesagt, sie wollten als »Märtyrer« sterben. Das klingt nicht gerade so, als ob es denen um humanitäre Hilfe ging.
Ich kann kein Türkisch. Womöglich handelt es sich auch hier um eine israelische Falschmeldung. Jedenfalls habe ich keinen Anlass zu glauben, dass sich an Bord jemand freiwillig töten lassen wollte.
Die beiden Bundestagsabgeordneten der »Linken« haben berichtet, sie seien vor dem Eingreifen der israelischen Einheit auf dem »Frauendeck« eingeschlossen worden – »zu ihrem Schutz«, wie sie vermuteten. Weshalb gab es eine solche Geschlechtersegregation?
Das lag vermutlich an der islamischen Prägung der Verantwortlichen auf der »Mavi Marmara«, die eine solche Trennung wollten. Ich finde das nicht so gravierend.
Die »Mavi Marmara« wurde maßgeblich von der islamistischen türkischen IHH organisiert und finanziert. Deren Vorsitzender hat bei der Einweihungszeremonie für das Schiff in Istanbul unter anderem gesagt: »Israel verhält sich, wie Hitler sich gegenüber den Juden verhalten hat. Hitler baute Konzentrationslager in Deutschland, und heute baut das zionistische Gebilde Konzentrationslager in Palästina.« Beim Auslaufen des Schiffes sind antisemitische Lieder gesungen worden. Mit wem haben Sie sich da gemein gemacht?
Ich war beim Auslaufen des Schiffes nicht dabei; wir waren vorher auf einem kleineren Schiff und sind erst auf hoher See auf die »Mavi Marmara« gewechselt. Wenn es zu solchen antisemitischen Gesängen oder Sprüchen gekommen sein sollte, würde ich das natürlich verurteilen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es so war. Wahrscheinlich ist auch das eine Falschinformation israelischer Medien.
Israel begründet die Blockade des Gaza-Streifens nicht zuletzt damit, dass die Einfuhr von Waffen an die Hamas unterbunden werden soll. Und tatsächlich ist es ja so, dass die Hamas Israel nicht nur nicht anerkennt, sondern sogar dessen Vernichtung propagiert. Befürworten Sie dennoch die Zusammenarbeit mit dieser Truppe?
Wie Sie sicher wissen, hat die Hamas die letzten Wahlen gewonnen, sie ist also demokratisch legitimiert …
 … und hat von den Wählern auch das Mandat für ihren Krieg gegen Israel bekommen.
Nehmen Sie doch auch mal die Gegenseite zur Kenntnis!
Das tue ich gerade.
Hören Sie, es geht uns nicht um Solidarität mit der Hamas. Wir wollen etwas gegen die elenden Verhältnisse im Gaza-Streifen tun, diesem erweiterten Freiluftgefängnis. Und wir wollen die israelische Blockade anprangern, die zu diesem Elend geführt hat.
Der Hamas-Führer Ismail Haniya sagte: »Wenn die Schiffe Gaza erreichen, ist das ein Sieg – und wenn sie von den Zionisten terrorisiert werden, ist das ebenfalls ein Sieg.« Spielen Sie mit der Teilnahme an der »Free Gaza«-Aktion nicht solchen Kräften in die Hände?
Ich möchte jetzt eigentlich nichts mehr zur Hamas sagen. Nur so viel noch: Es war zu erwarten, dass sie die Aktion politisch nutzen würde. Aber das entzieht sich unserem Einfluss.