Hurra, wir kapitulieren! Koalitionsverhandlungen in NRW

Jetzt hilft nur noch Bonaparte

Bei den Landtagswahlen in NordrheinWestfalen war die SPD noch mit dem Ziel angetreten, die schwarz-gelbe Mehrheit im Bundesrat zu beenden. Am Freitag voriger Woche hat sie stattdessen die Koali­tionsverhandlungen beendet. Der SPD-Landesvorstand favorisiert nun die Arbeit in der Opposition.

Seit dem 9. Mai arbeiten die Verhandlungsführer der nordrhein-westfälischen Parteien erfolglos an einer Regierungsbildung. Und seit rund sechs Wochen werden in Düsseldorf diverse Koalitionsoptionen und Tolerierungsmodelle sondiert, wird über Neuwahlen, Minderheitsregierungen und sonstige taktische Finessen spekuliert. Eine von den Bundesspitzen von SPD und Grünen bevorzugte rot-grüne Minderheitsregierung würde zwar eine neue Mehrheit im Bundesrat sichern. Als Ministerpräsidentin wäre Hannelore Kraft (SPD) jedoch auf höchst unsichere wechselnde Mehrheiten angewiesen. Dies wird vor Ort als »Harakiri« empfunden.
Unabhängig vom konkreten Ausgang der nordrhein-westfälischen Verhandlungen werden die Illusionen derjenigen enttäuscht, die nach dem Wahlsieg von Union und FDP bei der Bundestagswahl 2009 prognostiziert hatten, dass im Fünfparteiensystem Zweierbündnisse weiterhin solide Mehrheiten erreichen können. Eingetreten ist das Gegenteil – Koalitionsverhandlungen geraten immer mehr zur Farce. Und noch nie war in der Geschichte der Bundesrepublik eine Bundesregierung so zerstritten wie derzeit das »bürgerliche« Lager. Dabei schienen die Voraussetzungen für einen rigiden Sparkurs selten so günstig wie heute. Doch obwohl in Deutschland im Gegensatz zu Griechenland, Italien oder Spanien nur schwach gegen die Sparmaßnahmen protestiert wird, befindet sich die schwarz-gelbe Regierung in einer beispiellosen Krise. Der Konsolidierungskurs setzt auch den politischen Wünschen von Union und FDP enge Grenzen. Da verlieren selbst betulich-konservative Gemüter die Contenance. Politiker von CSU und Liberalen paralysieren die Regierung derzeit wirkungsvoller als jede Opposition. Der Traum vom »durchregieren« ist jäh unterbrochen. »Aufhören!« ruft der Spiegel den Berliner Regenten auf seiner aktuellen Titelseite entgegen. Auch die Diagnose von den entgegengesetzten »bürgerlichen« und linken Lagern erweist sich als fragwürdig. »Der Kitt der schwarz-gelben Koalition besteht derzeit nur in fehlenden Alternativen. Schwarz-Gelb ist aufeinander angewiesen – auf Gedeih und Verderb«, schreibt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung.
Die »strukturelle linke Mehrheit« offenbarte sich nicht nur im politischen Karneval der rot-rot-grünen Sondierungsgespräche in Nordrhein-Westfalen als Illusion. Die Parallelen zwischen den Programmen von SPD, Grünen und »Die Linke« taugen derzeit nur für die PowerPoint-Präsentationen ambitionierter Think Tanks. Personell und realpolitisch ist das »linke Lager« gespalten. Als Alternative existiert ein »rot-rot-grünes Projekt« alleine auf dem Papier.

Die Parameter des Parteiensystems in der Bundesrepublik haben sich verändert. Vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise sowie bedingt durch die neue Parteienvielfalt haben die traditionellen politischen Formen der Mehrheitsbildung ihre Grundlage verloren. Der Typus der sogenannten Volksparteien wird angesichts der sinkenden Wahlbeteiligung zum Auslaufmodell. In Nordrhein-Westfalen verlor die CDU des »Arbeiterführers« Jürgen Rüttgers satte 10,2 Prozentpunkte. In absoluten Zahlen sind dies rund eine Million Wählerstimmen. Trotzdem beansprucht Rüttgers aufgrund eines winzigen Vorsprungs von 5 882 Stimmen vor der SPD das Amt des Ministerpräsidenten. Die Sozialdemokraten wiederum verloren im Vergleich zum Ergebnis von 2005 noch einmal 2,6 Prozentpunkte. Dennoch gilt Hannelore Kraft weiter als Hoffnungsträgerin der SPD. Für die Parteien gilt ein neuer Leitsatz: Gewinner ist, wer prozentual am wenigsten verliert.
Die FDP dagegen schlug Kapriolen der ganz eigenen Art, indem sie kurzfristig und entgegen sonstigen Verlautbarungen in Sondierungsgespräche mit jenen Parteien ging, denen sie zuvor noch die Kumpanei mit »Linksextremen« vorgeworfen hatte. Wer die Liberalen als Gegengift wider SPD und Grüne wählte, sah sich getäuscht. Wohl nicht zuletzt wegen der Brüskierung der eigenen Klientel wurde das Scheitern dieser Option mit Erleichterung aufgenommen. »Ich habe selten eine lustigere Beerdigung erlebt«, zitiert die Süddeutsche Zeitung einen Teilnehmer der Verhandlungen.
Alternativen fehlen, weil aus dem Scheitern Andrea Ypsilantis in Hessen 2008 kaum strategische Konsequenzen für ein »Reformbündnis« gezogen wurden. Dabei waren die Bedingungen für eine rot-rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen nicht ungünstig, erreicht doch die Krise der Repräsentation längst auch das bürgerliche Lager. Selbst etablierte Leitartikler stimmen schon seit Wochen den Abgesang auf Schwarz-Gelb an. Einstige Parteigranden der Union wechseln wie Roland Koch unter Verweis auf mangelnde Gestaltungsmöglichkeiten in die Wirtschaft, und Gegenspieler Merkels werden, wie Günter Oettinger oder Christian Wulff, nach Brüssel oder ins Schloß Bellevue weggelobt. Unter Normalbedingungen wäre dies die Stunde für parlamentarische Gegenentwürfe. Allerdings findet ein rot-rot-grünes Bündnis nur bei einer Minderheit in den Parteien Zuspruch. Auch soziale Bewegungen, die gegen die Berliner Sparpolitik opponieren und ein solches Projekt begleiten könnten, haben Schwierigkeiten, ihre Leute zu motivieren.

Die Grünen kommen mit dieser »neuen Unübersichtlichkeit« noch am besten zurecht. Für diese Scharnierpartei sind zahlreiche Optionen möglich. »Die Linke« dient ihr vor allem zur politischen Distinktion. Zahlreiche Mandatsträger und Funktionäre der Grünen halten die Partei für eine nostalgische Retro-Linke. Nach dem Ende der rot-rot-grünen Sondierungsgespräche meinte selbst der als links geltende Grüne Robert Zion in der Taz, die »altlinken Funktionärskader der Linkspartei in NRW« hätten »nach leninistischem Vorbild den Staat kapern und von innen verändern« wollen.
»Die SPD will nicht mit der Linkspartei koalieren«, kommentierte der Kabarettist Volker Pispers, »denn dann müsste sie ja ihr eigenes Programm umsetzen!« Das Scheitern der Sondierungen entbindet die Führungsriege der SPD von dieser Aufgabe. Gerade bei den Fragen Gymnasium, Ganztagsschule und gemeinsames Lernen entwickelt das deutsche Bürgertum geradezu rebellischen Geist und spielt Kulturkampf. Gegen diesen medial gut vernetzten Block konservativer Interessengruppen hätte ein »Reformbündnis« regieren müssen. Zudem hatte sich die Linkspartei trotz eines 80seitigen Programms kaum auf den Ernstfall der Regierungsbildung vorbereitet. Ministerpersonal hätte vermutlich aus anderen Landesteilen importiert werden müssen. Auf der Grundlage eines Wahlergebnisses von 5,6 Prozent bei einer mageren Wahlbeteiligung von 59,3 Prozent käme eine Koalition in einem hochverschuldeten Bundesland einer Schocktherapie gleich. Wer in den vergangenen Wochen die Diskussionen auf einschlägigen Mailverteilern der Partei beobachtete, konnte feststellen, dass nicht wenige Genossinnen und Genossen davon eine leise Ahnung hatten. Sie verkündeten eine gar nicht so klammheimliche Freude über das Fernbleiben von den Regierungsbänken.

Die Optionen in Nordrhein-Westfalen sind inzwischen ausgereizt. Tritt der vom »Arbeiterführer« zum kommissarischen Amtsverwalter degradierte Jürgen Rüttgers nicht vom Posten des Ministerpräsidenten zurück, muss die SPD mit Anträgen und Gesetzesentwürfen opponieren, bis er seinen Platz räumt. Das Ergebnis wäre eine große Koalition unter Hannelore Kraft. An einer Neuwahl kann dagegen niemand Interesse haben. Zwar bestünde die Chance, dass »Die Linke« den Wiedereinzug verpasst und somit einer Zweierkoalition der Weg geebnet wird. Doch das bürgerliche Lager agiert geschwächt wie nie. Da etliche Abgeordnete von Union wie SPD um ihren Wiedereinzug bangen müssten und die FDP in Umfragen inzwischen unter der Rubrik »Sonstige« geführt wird, wäre die Ausrufung von Neuwahlen für alle Beteiligten riskant. Auch hier müssen die einst als Anomalie des Parteiensystems betrachteten Grünen wenig befürchten: Keine andere Partei hat eine so enttäuschungsresistente Wählerschaft. Die schwarz-grüne Koalition in Hamburg schadete ihr ebenso wenig wie das »Jamaika«-Bündnis an der Saar. Die Grünen verbesserten in Hamburg bei der Bundestagswahl 2009 ihr Ergebnis gegenüber der Bürgerschaftswahl sogar von 9,6 auf 13,2 Prozent.
Während die sogenannten Volksparteien politisch immer mehr an Einfluss verlieren, begünstig das personalisierte Verhältniswahlrecht die kleinen Parteien. Besonderes Ärgernis ist dabei »Die Linke«, der die Blockade des »Reform« genannten Abbaus des Sozialstaats vorgeworfen wird. Die Situation in Nordrhein-Westfalen, wo traditionelle Koalitionsmodelle gescheitert und nicht nur die Träume von »Jamaika« geplatzt sind, gilt als Symbol für die politische Lähmung in der ganzen Republik. Als Ausweg aus der Kri­se empfehlen ehemalige Politiker wie Wolfgang Clement oder Friedrich Merz, Rechtsintellektu­elle wie der ehemalige BDI-Chef Hans-Olaf Henkel und Think Tanks wie der Frankfurter Zukunftsrat oder der von Henkel gegründete Konvent für Deutschland die Einführung des Mehrheitswahlrechts. Durch zusätzliche plebiszitäre Elemente soll eine Politik des »Durchregierens« erleichtert werden. Parteien gelten in diesen Kreisen kaum noch als pragmatische Vermittler zwischen Bevölkerung und Regierung, sondern als Störfaktoren. Was einst als progressive Forderung nach mehr direkter Demokratie formuliert wurde, verliert dabei zunehmend den einst kritischen Impuls.
Verhindert werden soll, dass die Empfänger staatlicher Transferleistungen mit ihrem Wahlzettel gegen die Politik des Spardiktats protes­tieren können. Ein Mehrheitswahlrecht wäre eine wirksame Waffe gegen »Die Linke« und ihre prekarisierte Wählerschaft. Doch schon jetzt sind die Regionen mit niedriger Wahlbeteiligung identisch mit den sozial abgehängten Stadtteilen. Zudem haben die Angehörigen der Mittelschicht die sozial Deklassierten auch als Wähler und Mitglieder aus den Parteien weitgehend verdrängt. Eine bonarpartistische Reform des Wahlrechts würde darüber hinaus dafür sorgen, dass das »abgehängte Prekariat« als wahlpolitischer Akteur vollends bedeutungslos wird.