Unter dem Müll liegt der Schnaps

Wir waren jung, wir brauchten den Schnaps. Überdies bringt es Prestige, auf einer Party mit einer Flasche Johnnie Walker Black Label aufzuwarten und auf die Frage, wo man den denn her hätte, mit einem verschwörerisch gemurmelten »geklaut« zu antworten. Die Aushilfstätigkeit in einem Supermarkt hatte ­unschätzbare Vorteile. Wir arbeiteten meist im Lager und hatten eine denkbar einfache Methode entwickelt. Die Beute wurde unter dem Müll versteckt, den wir in einem Einkaufswagen aus dem Laden brachten, und nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Container geholt. Irgendjemand hat uns dann denunziert, fortan bestand der Chef auf einer Müllkontrolle. Wir deponierten die Beute nun unter dem Schlachtermüll, einer offenen Tonne voller Blut und Eingeweide, die er nie anhob.
Jahre später fanden wir heraus, dass der Chef gegenüber dem Finanzamt für alle von uns stets den steuerfreien Höchstverdienst angegeben hatte, obwohl wir nur einen Bruchteil dieser Summe erhalten hatten. Er hatte also unser Vertrauen ebenso wenig verdient wie wir das seine. Heute glaube ich, dass er gar nicht so genau wissen wollte, was sich unter dem Schlachtermüll befand. Er musste auf die Denunziation reagieren und seine Autorität wahren. Der Schwund an Zigaretten, für den vornehmlich der Lehrling Robbi verantwortlich war, den ich später manchmal nach seinem Feierabend mit prall gefüllten Jackentaschen im Bus traf, kann ihm nicht entgangen sein. Dass wir und einige der regulären Angestellten etwas mitgehen ließen, war für ihn wohl ein hinnehmbarer Kollateralschaden. Für den neuen Daimler reichte der Gewinn auch so. Zudem ahnte er wohl, dass er auch von neuem Personal kein anderes Verhalten erwarten konnte. Auch Robbi, ein Hilfshooligan und ­alles andere als ein Linker, betrachtete es als sein selbstverständliches Recht, seinen kargen Lohn aufzubessern, obwohl er von der Werttheorie nie etwas gehört hatte.
Die illegale Rückholung enteigneten Mehrwerts ist nur eine Variante der Renitenz von Lohnabhängigen. Auch kollektives Krankfeiern, die Verweigerung des Gehorsams und offener Widerspruch machen dem Chef klar, dass er sich nicht alles erlauben kann. Derzeit gilt es aber schon als renitent, wenn jemand pünktlich Feierabend macht. Das »Vertrauensverhältnis« ist wegen einer verspeisten Maultasche dahin, die in den Müll gewandert wäre. Niemand fragt, was eigentlich der Chef tun muss, um sich das Vertrauen der Lohnabhängigen zu verdienen. Über das gesellschaftliche Kräfteverhältnis entscheidet nicht zuletzt der alltägliche Kleinkrieg im Betrieb. Nur weil an dieser Front nicht mehr gekämpft wird, können die Unternehmer so dreist sein und die Botschaft zu verbreiten: Ihr seid es nicht einmal wert, unseren Abfall zu fressen.