Die Avantgarde der Angst. Zur Lebenssituation von Erwerbslosen

Die Avantgarde der Angst

Immer mehr Berichte zeichnen ein alarmierendes Bild von der Lebenssituation Erwerbsloser. Sie sind überproportional häufig von psychischen Erkrankungen betroffen. Gleichzeitig steigt bei Beschäf­tigten der psychologische Druck, nicht in eine solche Situation hineinzugeraten.

Maria M. arbeitet als freiberufliche Übersetzerin. »Ich musste kürzlich meine Steuervorauszahlung leisten«, erzählt sie, »aber die Firma, für die ich hauptsächlich arbeite, hat den letzten Auftrag immer noch nicht bezahlt. Dieses angstvolle Warten darauf, dass ich auch im nächsten Monat meine Miete bezahlen kann, das macht mich ziemlich fertig.« Ihre Freundin und Kollegin Sabine S., die in derselben Branche beschäftigt ist, pflichtet ihr bei und sagt: »Ich musste neulich einen Vertrag unterschreiben, in dem stand, dass ich der Firma Schadensersatz zahlen muss, wenn ich einen Fehler mache, durch den sie einen Kunden verliert. Das lässt mich fast nicht schlafen.« Von möglichen Schadensersatzforderungen ist mittlerweile auch in einigen Honorarverträgen die Rede, die freiberufliche Dozenten abschließen müssen, um unterrichten zu dürfen, denn Bildungsträger und ähnliche Institutionen möchten verhindern, dass die schlechtbezahlten Lehrer während eines Kurses aussteigen, wenn sie eine Alternative gefunden haben.

Der psychische Druck wächst nicht nur für Freiberufler, sondern auch für diejenigen, die einer regulären, versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen – spätestens dann, wenn diese in Gefahr ist. »Angst vor Jobverlust macht depressiv«, titelte die Süddeutsche Zeitung bereits im Oktober 2009 und fasste die Beobachtung des Hamburger Psychiaters Hans-Peter Unger zusammen, wonach das Risiko für Beschäftigte, an einer psychischen Störung zu erkranken, drastisch steige, sobald ihr Arbeitsplatz bedroht sei. Zu der Angst vor dem Jobverlust kommen die Zumutungen hinzu, denen diejenigen ausgesetzt sind, die im sogenannten Dienstleistungssektor beschäftigt sind: Callcenter-Agenten, die »Cold Calls« tätigen; Mitarbeiter von Zeitarbeitsfirmen, die sich immer wieder auf neue Gegebenheiten einstellen müssen; Gastronomie- und Hotelmitarbeiter, deren Arbeitsaufwand und Stress in keinem Verhältnis zu ihrer Entlohnung steht. Die Liste der Belastungen könnte lange fortgeführt werden. Die Krankenkassen zeigen sich dementsprechend alarmiert. So wies die AOK Ende 2009 darauf hin, dass die Fehlzeiten der Arbeitnehmer aufgrund psychischer Erkrankungen seit 1995 um 80 Prozent zugenommen hätten.

Während Wissenschaftler und Medien unlängst noch den Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise und der Befindlichkeit von Beschäftigten ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt haben, geht es nun darum, dass die Gruppe der Erwerbslosen den stärksten Anstieg der psychisch bedingten Krankheitstage zu verzeichnen hat. Besonders belastend ist die Abhängigkeit von den Arbeitsagenturen und Jobcentern und das damit verbundene Gefühl, als Person abgewertet zu sein und keine Perspektive zu haben. Jedem siebten Arbeitslosengeldempfänger werden mittlerweile Psychopharmaka verordnet, zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung, die der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im Februar 2010 vorgelegt hat. Auch Krankenkassen wie die BKK berichteten im März, dass Arbeitslose besonders häufig wegen Alkoholabhängigkeit und Depressionen in Kliniken behandelt werden müssten, und die Techniker-Krankenkasse stellt in ihrem Gesundheitsreport 2010 fest, dass sich die Zahl der Krankentage infolge psychischer Belastungen bei arbeitslosen Mitgliedern von Krankenkassen in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt hat. Spiegel Online führte Ende Mai dazu weiter aus: »Arbeitssuchende Menschen müssen intensiver wegen starker psychischer Probleme behandelt werden. So erhalten weibliche Arbeitslose ohne Job der Techniker-Krankenkasse-Statistik zufolge im Durchschnitt doppelt so viele Antidepressiva wie berufstätige Personen. Bei den männlichen Personen liegt der Wert bei arbeitsuchenden Menschen sogar ungefähr dreimal so hoch wie bei berufstätigen Bürgern.« Und im Juni berichtete die Zeitschrift Zeit Wissen, dass sich das Risiko früh zu sterben in Abhängigkeit von der Dauer der Arbeitslosigkeit erhöhe.
Das liegt nicht nur an der Tatsache, dass man als ALG-II-Empfänger mit wenig Geld auskommen muss, sondern mitunter auch an der Panik, die bei vielen derjenigen ausbricht, die sich beim Jobcenter melden müssen. Xep Thi T. beispielsweise, einst Vertragsarbeiterin aus Vietnam, fühlte Scham und große Angst, »weil ich die ganzen Papiere nicht verstehe«. Einer, der nicht einmal mit gekürztem Namen genannt werden möchte, berichtet darüber, wie unerträglich die stetigen Anrufe seiner Familie seien, bei denen es beinahe ausschließlich um die Frage gehe, warum er noch immer keinen Job gefunden habe. Elfie H., eine 55jährige Buchhalterin, die bei einem soziokulturellen Projekt in Berlin beschäftigt ist, sagt: »Ich habe furchtbare Angst davor, diesen Job zu verlieren. Wenn der weg ist, dann weiß ich doch ganz klar, dass ich den Rest meines Lebens in Armut und Abhängigkeit verbringen muss.«

Elfie H. macht im Gespräch die permanente Arbeitslosenschelte der schwarz-gelben Koalition für ihre Ängste mitverantwortlich. Dabei lässt sie außer Acht, dass es die rot-grüne Regierung war, deren Hartz-Gesetzen nicht nur die materielle, sondern auch die psychische Verelendung breiter Bevölkerungsteile zu verdanken ist. Schließlich hat Hartz I die weitgehende Zulassung der Zeitarbeit durchgesetzt, Hartz II sorgte dafür, dass man auch in einem Minijob für maximal 400 Euro mehr als 15 Wochenstunden arbeiten »darf«, und Hartz III schob die Beweislast, dass Arbeitslose sich wirklich um einen Job bemühen, den Arbeitslosen zu und schaffte die Arbeitslosenversicherung für Menschen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ab. Auch die Tatsache, dass sich Arbeitssuchende zunehmend mit schonungslosen Arbeitsvermittlern konfrontiert sehen, geht auf die Hartz-Gesetze zurück.
Die Zunahme psychischer Erkrankungen im Zusammenhang mit der Arbeitssituation beschränkt sich nicht auf Deutschland, sie ist ein internationales Phänomen. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass Herz-Kreislauf­erkrankungen, die bisher als häufigste Krankheit galten, von der Depression abgelöst werden. Die Erscheinungsbilder der Depression sind vielfältig, neben Angstzuständen und dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit werten Psychologen auch Aggressionen, die Menschen nicht nach außen, sondern gegen sich selber richten, als Symptome. Schon Käte Frankental, die Ende der zwanziger Jahre im Berliner Bezirk Neukölln als Sozialärztin arbeitete, beschäftigte sich mit den psychischen Folgen, die aus der Angst vor Arbeitslosigkeit entstehen. In ihrer Autobiografie beschreibt die Ärztin und Psychoanalytikerin, dass Menschen in Krisenzeiten nicht Krankheit, sondern Gesundheit simulieren würden, aus Sorge, den Arbeitsplatz zu verlieren. Frankental beobachtete auch, wie die Menschen ihre Körper inszenierten. Vor allem in den letzten Jahren der Weimarer Republik registrierte sie auffallend viele Tätowierungen und sprach in diesem Zusammenhang von Selbstverstümmelung.
Tattoos, Brandings und Piercings sind im derzeitigen Straßenbild allgegenwärtig. Käte Frankental hätte an diesen Insignien die Hauptstadt der Arbeitslosen erkannt. Vielleicht ist Berlin einfach nur beängstigend arm und weitaus weniger sexy, als ihr regierender Bürgermeister glaubt.