Der Mittlere Schulabschluss, ein Erfahrungsbericht

Nicht jeder kann es schaffen

Erst das Niveau immer weiter runterschrauben und die Schüler am Ende scheitern lassen. Das kann doch nicht das Prinzip der Chancengleichheit sein.

Ich liebe meinen Beruf. Und nicht nur, weil ich jeden Sommer mehr als sechs Wochen nicht arbeiten muss, sondern auch, weil es der interessanteste und aufregendste Job ist, den ich mir vorstellen kann. Ich bin Lehrerin. Als Lehrer ist man den ganzen Tag von Jugend umgeben. Immer am Puls der Zeit. Ich weiß genau, welche Turnschuhe gerade angesagt sind und wo es gerade voll günstige Flats fürs Handy gibt. Ich kann über Germany’s Next Topmodel und die Fußball-WM diskutieren. Eine eigene Klasse zu haben, ist wie eine endlose Soap, in der man sogar mitspielen darf. Skandale und Tragödien, Cliffhanger, aber auch immer wieder Happy Ends.

Ich unterrichte an einer sogenannten Brennpunkt-Schule in einem sogenannten Problembezirk in Berlin. Da tobt das Leben. Da ist immer was los. Noch nie habe ich mich auch nur eine Minute auf der Arbeit gelangweilt. Es könnte alles so schön sein, wenn man nicht auch noch unterrichten müsste. Ich unterrichte sehr gerne, nur ist der Unterricht nicht der Hauptgrund, warum meine Schüler in die Schule gehen. Sie kommen, um sich zu präsentieren, ihre Freunde zu treffen und vor allem, um nichts zu verpassen. Eigentlich sind wir so etwas wie ein Jugendclub oder eine Disko ohne Musik.
Aber nächstes Jahr wird alles anders. In Berlin wird die Sekundarschule eingeführt. Die Haupt- und die Realschule werden abgeschafft. Sie vereinen sich zu einer neuen Schulform, der integrierten Sekundarschule, die dann ganz gleichberechtigt neben den Gymnasien steht. Wer es nicht auf das Gymnasium schafft, geht dann einfach auf eine »ISS«. Da es keine Realschulen mehr gibt, gibt es auch den Realschulabschluss nicht mehr. Der heißt schon seit einigen Jahren MSA (Mittlerer Schulabschluss).
Früher bekam man den Realschulabschluss, wenn man gute Noten hatte. Heute müssen die Schüler nicht nur gute Noten haben, sondern auch eine mündliche Prüfung in Englisch, eine Präsentationsprüfung sowie drei schriftliche Prüfungen in Deutsch, Mathematik und Englisch bestehen, bevor sie die Schule mit dem MSA verlassen. Dieses Miniabitur finde ich persönlich ganz gut, denn die Schüler bereiten sich zum größten Teil intensiv darauf vor, nehmen die Prüfungen ernst und erleben zum ersten Mal das schöne Gefühl, an etwas wirklich Wichtigem teilgenommen zu haben. Die Schüler, die die Prüfungen bestehen, können sich zu Recht auf die Schulter klopfen. Die Abschlüsse sind besser vergleichbar, und die Ausbildungsstellensuche wird gerechter. Jeder Schüler hat theoretisch die Chance, den Mittleren Schulabschluss zu machen. Sogar auf den Hauptschulen war es theoretisch möglich, an den Prüfungen teilzunehmen. Mit der Einführung der Sekundarschulen wird es noch mehr Schüler geben, die den MSA machen wollen.
Klingt doch alles fair und gut. Wo ist das Problem? Meiner Meinung nach wird zu vielen Schülern seit der Einführung des MSA vorgegaukelt, sie hätten die Chance, diesen Schulabschluss zu erreichen. Irgendwann im zehnten Schuljahr muss man sich für die Teilnahme an den Prüfungen anmelden. Die Zulassungsvoraussetzungen sind so niedrig, dass sich fast jeder anmelden kann, und genau hier liegt das Problem. Um den MSA zu bestehen, muss man viel bessere Noten haben als für die Zulassung. Deshalb melden sich jedes Jahr ganze Klassen zur Prüfung an. Die Schüler denken: »Super, ich darf mitmachen … mache ich mal mit, mehr als schiefgehen kann’s ja nicht … « Die Eltern denken: »Toll, mein Kind wird den Realschulabschluss machen.« Und was denken die Lehrer? Ich denke jedes Jahr: Wer sich richtig anstrengt, der wird den schon schaffen. Leider sehe ich bei vielen Schülern überhaupt keine Anstrengung. Sie meinen, es genüge, sich anzumelden und dann werde das schon irgendwie von selbst laufen.
Ich frage sie: »Warum willst du denn den MSA machen? Du weißt doch, dass man dazu eine Drei in Deutsch, Mathe und Englisch auf dem Zeugnis braucht. Das hattest du noch nie. Wenn du das wirklich schaffen möchtest, dann musst du jetzt sofort richtig doll mitarbeiten. Die erste Arbeit in Deutsch war schon eine Fünf und in Mathe auch.« – »Ach, Sie werden sehen, ich schaff das schon.«
Und dann kommen die Prüfungen. Für die Präsentationsprüfung darf sich der Schüler ein eigenes Thema auswählen und bekommt viel Unterstützung von den Lehrern. Während der Präsentation laufen manche Schüler zur Höchstform auf. Ich saß in Prüfungen, die mich so begeisterten, dass ich den Schülern am liebsten um den Hals gefallen wäre. Aber es gibt auch die Schüler, die zwei Tage vor der Prüfung zu mir kommen und nach einem Plakat fragen. Die, die in der Prüfung Wikipedia-Texte ablesen und bei Nachfragen offenbaren, dass sie sich fast gar nicht mit ihrem Thema auseinandergesetzt haben. Auf die Frage, warum die Vulkane entstanden sind, kann »weil Allah es so wollte« nicht die richtige Antwort sein.

Diese Schüler wissen eigentlich schon das ganze Schuljahr, dass sie den MSA nicht bestehen werden. Sie sagen einem schon im Oktober, dass sie die zehnte Klasse und damit den MSA wiederholen wollen. Das ist bequem, denn dann braucht man sich keine weiteren Gedanken über seine eigene Zukunft zu machen. Alles wird ein Jahr nach hinten geschoben. Die Eltern sind beruhigt, es gibt ein weiteres Jahr eine Schulbescheinigung und Kindergeld. Niemand muss den mühsamen Weg des Bewerbungsschreibens gehen. Man braucht sich noch nicht mal Gedanken zu machen, welche Ausbildung man machen könnte. Das Ziel ist einfach nur der MSA, und wenn man den nicht besteht, dann versucht man es ein zweites Mal, und wenn es dann wieder nicht klappt, dann geht man einfach auf ein Oberstufenzentrum und probiert es dort noch einmal.
Nur sehr wenige Schüler an meiner Schule ­schreiben in der zehnten Klasse Bewerbungen. Kaum einer weiß, was er werden will. Wir Lehrer haben wenig Zeit, uns mit der Berufsfindung unserer Schüler zu beschäftigen, weil immer der MSA im Vordergrund steht. Und das ist auch gut so, denn möglichst viele Schüler sollen einen guten Schulabschluss machen. Aber es gibt eben auch die, die den MSA nicht schaffen, und um die kümmern wir uns viel zu wenig. Durch die Abschaffung der Hauptschulen wird dieses Problem noch verstärkt. Man wird Tausende von Schülern in Warteschleifen halten, weil deren einziges Ziel ist, den MSA zu bestehen. Was passiert dann mit ihnen, wenn sie auch beim dritten oder vielleicht sogar beim vierten Versuch wieder keinen Mittleren Schulabschluss geschafft haben? Sie sind dementsprechend alt, und die Ausbildungsplatzsuche wird dadurch nicht einfacher.
Warum gaukelt man den Schülern vor, dass jeder es schaffen könne? Früher haben nur die Schüler einen Realschulabschluss bekommen, die die entsprechenden Noten hatten. Jemand, der immer ein schlechtes Zeugnis hatte, wusste, dass er sich sehr verbessern muss, um diesen Abschluss zu schaffen. Heute denken die Schüler: »Ich bin doch angemeldet, das reicht.« Warum sind die Zulassungsvoraussetzungen so viel niedriger als die späteren Voraussetzungen zum Bestehen der Prüfung? Das macht doch keinen Sinn. Ich kann mich nicht für die Olympischen Spiele qualifizieren, wenn ich für 100 Meter 20 Sekunden brauche. Ich finde auch nicht, dass man die Schüler damit motiviert, wenn sie am Schuljahresende an den hohen Erwartungen scheitern. Vielen Schülern würde ein zweites Berufspraktikum in der zehnten Klasse und eine von der Schule begleitete Ausbildungsplatzsuche mehr helfen.
Seit der Einführung der MSA-Prüfungen frage ich mich, warum der Senat die Voraussetzungen nicht erschwert. Geht es wirklich um Chancengleichheit? Oder freut man sich nur darüber, dass ein Schüler, der sich irgendwo im MSA-Prüfungsnirvana befindet, nicht in den Arbeitslosenstatistiken auftaucht?