Über sexuelle Gewalt in der Kirche und die Rolle des Papstes

Nur des Papstes Füße küssen

Im Konflikt um sexuelle Gewalttaten von Geistlichen besteht der Papst auf Privilegien, die seine Vorgänger im Mittelalter erkämpften.

Die Ermittler drangen bis in die Gruft vor. Als die belgische Staatsanwaltschaft Ende Juni den Sitz des Erzbistums Mechelen-Brüssel durchsuchte, wurden auch Gräber in der Krypta der Sint-Rombouts-Kathedrale geöffnet, weil man dort belastende Dokumente vermutete. Kardinal Godfried Danneels, der bis zu seinem Rücktritt im Januar die katholische Kirche Belgiens geleitet hatte, wurde zehn Stunden lang von der Polizei verhört, ihm droht eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung. Ihm und anderen Geistlichen wird vorgeworfen, sexuelle Gewalt von Untergebenen gedeckt zu haben.
Bislang hatten die Skandale überwiegend von reaktionären Geistlichen geleitete Bistümer getroffen. Danneels gehört jedoch zu den liberalen Kardinälen, unter anderem befürwortet er die Benutzung von Kondomen zum Schutz gegen HIV. Im Vatikan war er nicht sehr beliebt, sein Nachfolger wurde der erzkonservative André-Mutien Léonard, der Homosexuelle als »abnormal« bezeichnete.
Doch im Zweifelsfall zählt der Korpsgeist. Danneels stand bereits Ende der neunziger Jahre vor Gericht, ihm wurde vorgeworfen, einen ihm unterstellten Pfarrer, der wegen Kindesmissbrauchs zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war, nicht ausreichend beaufsichtigt zu haben. In erster Instanz wurde der Kardinal zu einer Schadenersatzzahlung verurteilt, die Berufungsrichter sprachen ihn frei, da eine juristisch zu ahndende Pflichtverletzung nicht vorliege. Ob in den Gräbern von Sint-Rombouts Beweismaterial gefunden wurde, verriet die Staatsanwaltschaft nicht. Angesichts der bisherigen Erkenntnisse in vergleichbaren Fällen ist es jedoch sehr unwahrscheinlich, dass die Polizeiaktion Unschuldige traf. Der Vatikan wiederum überlässt auch einen ungeliebten Geistlichen nicht der weltlichen Macht, sein Staatsekretariat bekundete »großes Erstaunen« über die Durchsuchung.
Die sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche wird in der öffentlichen Debatte meist mit dem Zölibat in Verbindung gebracht. Doch das Motiv für eine Vergewaltigung ist nicht ein »Triebstau«, dem sich ja auch durch einvernehmliche Sexualität oder Handarbeit abhelfen ließe. Bei sexu­eller Gewalt geht es immer um Macht. Zuverlässige Statistiken über »Pädophilie« gibt es nicht, daher ist unklar, ob sie unter katholischen Geistlichen tatsächlich weiter verbreitet ist als etwa unter Sporttrainern, die ebenfalls weitgehend un­kon­trolliert über Kinder und Jugendliche verfügen können. Sicher ist jedoch, dass keine andere Institution so konsequent staatliche Ermittlungen behindert hat.
So ist man auch mehr als 220 Jahre nach der Französischen Revolution im Vatikan erstaunt darüber, dass verdächtige Geistliche behandelt werden wie gewöhnliche Sterbliche. Denn durch das Sakrament der Weihe gewinnt ein Mann der katholischen Lehre zufolge einen herausgehobenen Status, den er nicht mehr verlieren kann. »Die einmal gültig empfangene heilige Weihe wird niemals ungültig«, bestimmt das kanonische Recht. Der italienische Abt Umberto pries im Jahr 1129 die Geistlichkeit: »Wer ist unter allen Menschen glücklicher als jener, der die göttliche Weihe besitzt? (…) Ihr regiert über die Menschen wie ein Hirt über die Herde.« Rechenschaft schuldet ein Geistlicher allein seinen kirchlichen Vorgesetzten, also in letzter Instanz dem Papst, nicht aber den Laien, seien sie auch Könige oder Staatsanwälte.
Selbstverständlich und unumstritten waren diese Ansichten auch in der katholischen Welt nicht immer, erst im Mittelalter nahm die Kirche die Gestalt an, in der sie Gläubigen wie Ungläu­bigen noch heute gegenübertritt. Das Zölibat, die Unabhängigkeit des Klerus und die Befehlsgewalt des Papstes waren Neuerungen, die gegen den Widerstand vieler Laien, aber auch Geistlicher durchgesetzt werden mussten.
Angesichts der damals üblichen Umgangsformen erscheint das Gejammer der Papisten über böswillige Medienkampagnen, nörgelnde Politiker und übereifrige Ordnungshüter als sehr wehleidig. »An Hildebrand, nicht Papst, sondern falscher Mönch« war im Jahr 1076 der Brief Heinrichs IV. an Gregor VII. adressiert. So etwas würde kein Staatschef mehr wagen, und Benedikt XVI. muss auch nicht befürchten, dass Nicolas Sarkozy oder der Präsident eines anderen katholischen Landes einen Gegenpapst aufstellt, weil ihm die Politik des Amtsinhabers missfällt. Heinrich hatte da weniger Bedenken. Nachdem seine Armee im Jahr 1084 Rom erobert hatte, ließ er von einer Synode und seinen Verbündeten Guibert als Clemens III. zum Papst ernennen und Gregor exkommunizieren.
Im Laufe dieses Machtkampfes hatten beide Herrscher unbotmäßige Bischöfe gefeuert. Gestritten wurde über die Investitur, die Frage, wer das Recht hat, Bischöfe zu ernennen. Etwa die Hälfte des von Heinrich regierten Reichs war Geistlichen als Lehen gegeben worden. Er betrachtete es daher als sein Recht, die Bischöfe zu ernennen, und argumentierte, Paulus habe die weltliche Macht als gottgewollt bezeichnet, überdies hätten die Päpste selbst die Kaiser als Erben des Römischen Reiches anerkannt.
Gregor erkannte die lehnsrechtlichen Verpflichtungen der Geistlichen an, nicht aber das Recht weltlicher Herrscher, sie zu ernennen. »Natürlich werden alle Könige und Fürsten dieser Welt, die nicht fromm leben, von Dämonen beherrscht«, sagte Gregor. Die weltliche Macht, an sich teuf­lischen Ursprungs, werde gottgefällig nur im Dienst der Kirche, also unter der Befehlsgewalt des Papstes.

Die Trennung von weltlicher und geistlicher Macht wird dem Christentum häufig als Wesenseigenschaft zugeschrieben, doch zumindest in dieser Epoche war sie allenfalls eine propagandistische Formel. Die Kirche kontrollierte etwa ein Drittel des katholischen Europas als weltliche Macht, mehr als jeder Monarch. Die Feudalisierung der Kirche barg aber die Gefahr des Zerfalls. Regionale Kirchenführer, meist Adlige mit familiären Verpflichtungen und Loylitäten, scherten sich wenig um die Dekrete des Papstes im fernen Rom. »Dieser gefährliche Mensch möchte Bischöfe wie Haushälter herumkommandieren«, klagte im Jahr 1074 Erzbischof Liemar von Bremen über die Bestrebungen Gregors, dies zu ändern.
Um die Kirche zu einer zentral geführten In­stitution zumachen, mussten regionale und familiäre Bindungen eliminiert werden. Den weltlichen Herrschern musste das Recht genommen werden, über die Besetzung von Kirchenämtern zu entscheiden, doch galt es auch zu verhindern, dass Geistliche ihre Ämter und Pfründe vererbten. Die Priesterehe aber war im 11. Jahrhundert in den meisten Gebieten Europas üblich. Nur ein Papst, der Gehorsam erzwingen konnte, war in der Lage, eine so tiefgreifende Reform durchzusetzen. Gregor fasste seinen Machtanspruch in der Kampfschrift »Dictatus Papae« zusammen. Er postulierte unter anderem, dass »alle Fürsten nur des Papstes Füße küssen« sollten und »es ihm erlaubt ist, Kaiser abzusetzen«. Die geistliche Macht sei der weltlichen überlegen, deshalb gebühre ihr Vorrang, so wie die Sonne über dem Mond stehe.
Angesichts der Vielzahl der feudalen Fehden war das ein zugkräftiges Argument, zumal die Kirche sich tatsächlich bemühte, die Streitlust des Adels zu bremsen. Andererseits stand auch der Klerus in keinem guten Ruf. Der Begriff Pädophilie war im Mittelalter unbekannt, die Kindheit sollte erst in der bürgerlichen Epoche erfunden werden. Der Fleischeslust frönende Prälaten waren jedoch ein beliebtes Ziel von Spott und Kritik.
In theologischer Hinsicht war die Lage unklar. Stark beeinflusst von der Gnosis, die alles Materielle dem Reich des Bösen zuordnete, betrachteten die Frühchristen die Sexualität als hinderlich bei der Erlangung des Seelenheils. »Es ist dem Menschen gut, dass er kein Weib berühre«, hatte Paulus gepredigt, zur Vermeidung der »Hurerei« aber zugestanden, dass »ein jeglicher sein eigen Weib« haben solle. Der erste Korintherbrief berichtet, dass es unter den Aposteln üblich war, »eine Schwester zum Weibe mit umherzuführen«. Das tat auch Petrus, als dessen Nachfolger sich die Päpste betrachteten.
Doch die Durchsetzung des Zölibats war nicht nur eine machtpolitische Notwendigkeit, sie half auch, das Image der Geistlichkeit zu verbessern, und schuf eine größere Distanz zu den Laien. Weit mehr noch als die farbenfrohe Kostümierung und die geheimnisvolle Liturgie war es die Ehelosigkeit der Geistlichen, die sie aus der Masse heraushob.
Gregor konnte seine Ziele nicht erreichen, und den Kampf um die Weltherrschaft hat das Papsttum verloren. Doch im Jahr 1215 ließ In­nozenz III. erstmals ein verbindliches Glaubensbekenntnis dekretieren, das die erkämpften Reformen festschrieb. Die Priesterehe verschwand noch im 13. Jahrhundert. Einige Päpste mussten sich in den folgenden Jahrhunderten weltlichen Herrschern beugen, doch ihre Herrschaft über die Kirche wurde nicht mehr in Frage gestellt. Obwohl sich die Kirche in den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils mit der Demokratie abfand, geloben die Katholiken im »Credo des Volkes Gottes«, das Papst Pauls VI. 1968 vorlegte: »Wir glauben an die Unfehlbarkeit, die dem Nachfolger des heiligen Petrus zukommt, wenn er ex cathedra als Hirte und Lehrer aller Gläubigen spricht.«

Immerhin genügt es nun, den Ring des Papstes zu küssen. Doch ist es erstaunlich, dass Benedikt XVI. als unantastbare Persönlichkeit gilt, während die angeblich so frommen und gehorsamen Menschen des Mittelalters ungleich kritischer waren und damals auch ein Papst eine Watschn verpasst bekommen konnte, wie es Bonifaz VIII. im Jahr 1303 im Streit mit dem Adligen Sciara Colonna widerfuhr. Von der Zurückhaltung der Gläubigen wie der Ungläubigen profitiert Benedikt. Zwar deutet die katholische Führung nun an, bei Fällen sexueller Gewalt zu ­einer Zusammenarbeit mit weltlichen Behörden bereit zu sein. Doch solange eine kirchenrecht­liche Regelung aussteht, gilt die von Joseph Ratzinger mitverfasste Anordnung aus dem Jahr 2001, die eine ausschließlich geistliche Rechtsprechung vorsieht (Jungle World 12/10).
Benedikt stellt die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht in Frage, will sie aber so restriktiv wie möglich auslegen und bevorzugt in seiner Personalpolitik ausgewiesene Reaktionäre. Seine innerkirchlichen Kritiker beschränken sich auf mildes Nörgeln und das Abfassen von Bittbriefen. Die katholische Tradition des Antiklerikalismus scheint weitgehend verschwunden zu sein. Da sich hinter dem Antiklerikalismus meist der Wunsch verbirgt, eine bessere Kirche zu schaffen, müsste diese Apathie den Gläubigen ­eigentlich mehr Sorge bereiten als gelegentliche Papstschelte.