Popkritik in den siebziger und achtziger Jahren

Als die Stones noch links waren

Heute ist nur noch von der Krise der Popkritik die Rede, einer Disziplin, die niemand mehr braucht. Eine Sammlung von Texten des ersten wichtigen deutschen Popkritikers Helmut Salzinger zeigt, dass mal wieder früher alles besser war.

Wenn in den vergangenen Jahren vom »Ende der Poplinken« gesprochen wurde, bezog sich das stets auf die »Generation Spex« und deren in den Achtzigern ausgerufenes »Subversionsmodell Pop«. Doch die Poplinke ist viel älter. Schon Ende der Sechziger begann Helmut Salzinger im bürgerlichen Feuilleton über die umstürzlerische Macht der Rockmusik zu schrei­ben. Für deutsche Verhältnisse war das früh, erst recht für die honorige Zeit, für die Salzinger zuvor bereits regelmäßig Literaturkritiken verfasst hatte.
Salzinger war kein Teenager mehr, als er Rock und die Gegenkultur der USA für sich entdeckte. Der 1935 geborene Germanist hatte bereits eine Dissertation über »Eugen Gottlob Winklers künstlerische Entwicklung« veröffentlicht und das ganze theoretische Rüstzeug von Marx bis Adorno, von Marcuse bis Benjamin auf der Pfanne. Wer heute also vom »Ende der Poplinken« redet, muss erst einmal von deren Anfängen sprechen, genauer gesagt von einem Mann, der möglicherweise die gesamte Tradition deutschsprachiger Popkritik geprägt hat. Und das mit seiner rasanten journalistischen Mischung aus begeisterter Fan-Haltung und bildungsbürgerlicher Reflexion, schwärmerischer Revolutionsromantik und Zweifeln daran, ob der eigene Glaube an die Rock-Rebellion vielleicht nicht doch etwas zu hoch gegriffen ist.
Vor allem eines unterscheidet Salzinger von seinen Nachfolgern: Sein Zauberwort lautet Rock, nicht Pop. Der Begriff Pop taucht bei ihm meist im Kontext der Pop-Art auf, der Salzinger sehr kritisch gegenübersteht. Pop-Art, erklärt er in einem Text von 1966, sei affirmative Konsumkultur, der das europäische Denken abgehe: »Die Naivität, die der Europäer häufig an sogenannten typischen Amerikanern feststellen zu können glaubt, lässt sich auch in dieser Kunst wieder finden. (…) Wenn Marcel Duchamp vor gut 50 Jahren einen seriell hergestellten Flaschentrockner zum Kunstwerk erklärte, so vollzog er einen intellektuellen Akt (…). Wenn Pop-Art jedoch etwas Ähnliches tut, so lässt sich das höchstens mit der Malerei der europäischen Naiven vergleichen.« Für Salzinger ist Warhol der Inbegriff kapitalistischer Oberfläche. Dabei kritisiert er interessanterweise an Warhol all das, was für die kommende Generation deutscher Popkritiker ausschlaggebend dafür sein wird, ausgerechnet Warhol zu lieben: Ironie, Distanz, Bruch mit Identitäten, Mehrdeutigkeit. Hieran zeigt sich, wie unterschiedlich Salzinger und die Generation Diederichsen getickt haben: Im Zusammenhang mit Rock glaubte Salzinger noch an das Unverstellte, die spontane Geste, gelebte Gegenkultur. Ein Gitarrensolo von Grateful Dead war revolutionär, Warhols ironische Distanz dagegen reaktionär.
Salzingers Euphorie lässt erahnen, mit welcher Wucht die amerikanische Gegenkultur im Deutschland der ausgehenden Sechziger einschlug. Und sie zeigt auch, welch eine ambivalente US-Rezeption damit einherging: Der Pop-Art mangelt es Salzinger zufolge an europäischem Reflexionsvermögen, doch genau das wiederum begeistert ihn an der Rock-Kultur gegenüber europäischer Grübelei – sie fackelt nicht lange, sondern dreht einfach die Verstärker auf. Der Hippie-Generation prophezeite Salzinger noch 1973: »Woodstock Nation bedeutet, dass jeder für sich selbst, aber zusammen mit den anderen das System untergräbt, indem er sich all das nimmt, was man ihm verweigert, und das tut, was ihm verboten wird. Woodstock Nation ist ein Vorgriff auf die befreite Gesellschaft, ist der Beginn der Revolution.«
Seit seiner Trennung von der Zeit 1970 veröffentlichte Salzinger unter dem Pseudonym Jonas Überohr in der Musikzeitschrift Sounds, deren Redaktion ihm viel Freiraum bot und ihm selbst irrsinnige, vernebelte Passagen durchgehen ließ, die suggerieren, dass es nur Mick Jagger – Salzinger ist natürlich Stones-Fan – und Bob Dylan benötigt, um die Welt vom Kapitalismus zu befreien. Doch Salzingers Delirium geht noch viel weiter. Lustvoll lässt er Gegensätze aufeinanderprallen: In dem Maße, in dem er eine globale Rock-Revolution heraufbeschwört, verwirft er sie wenige Zeilen später auch schon wieder, sieht sie bereits komplett an den Kapitalismus verraten. Über das Publikum auf dem katastrophal aus dem Ruder gelaufenen Fehmarn-Festival schreibt er 1970: »Auf Fehmarn brachte nicht einmal die Not Selbstorganisation zustande. (…) Was bis heute als Underground, Gegenkultur oder Pop-Generation den Schein des Besseren an sich trug, entpuppt sich als Versagergeneration. Diese jungen Leute werden nichts verändern oder gar verbessern. Sie lassen alles mit sich machen und fühlen sich auch noch high dabei. Sie sind bravere Konsumenten als ihre sauberen gutgekämmten Altersgenossen, die gehorsam die vorgeschriebenen Laufbahnen der bürgerlichen Gesellschaft einschlagen.« Salzingers Artikel endet mit einem Paukenschlag: »Pop und falsches Bewusstsein sind Synonyme.« Rumms, Adorno hat gesprochen.
Die Lektüre von »Best of Jonas Überohr« wirft einen so schnell vom heißen ins kalte Wasser und wieder zurück, dass man Salzingers Stil eigentlich nur als kalkuliert eingesetzte, grob geschnitzte Dialektik begreifen kann. Rock ist für ihn das einzig richtige Leben im falschen, andererseits vom falschen längst schon vereinnahmt. Damit steht Salzinger am Beginn einer langen, soziopathetischen Geschichtsschreibung. Sein Lamento zieht sich als »Ausverkaufs«-Debatte über Jahrzehnte durch die Popkritik. Immer wieder ist dort der Mythos vom »reinen« Anfang und der feindlichen Übernahme bemüht worden. Ob Rock, Punk, HipHop oder Elektronik – die Legenden unterscheiden sich kaum voneinander. Einst schrieb Salzinger über das Publikum der Rolling Stones: »Unter diesen Leuten befanden sich die freiesten Menschen, die man heute auf dem Erdball finden kann (…).« Dies ist typisch überdrehte, nahezu zeitlose Pop-Rhetorik. Niemand würde sich wundern, heute einen solchen Satz in der Spex anlässlich eines Devendra-Banhart-Konzerts in Brooklyn zu lesen. So gesehen war Salzinger für die Popkritik stilprägend. Nie neutral, nie seriös, immer absolut und doch voller Widersprüche.
Das wird im Rahmen eines Sammelbandes schnell redundant, weshalb Salzinger sich eigentlich dann am besten lesen lässt, wo er keine Prognosen über die Weltrevolution abgibt, sondern Kritiker ist. Über »Dark Star« auf dem Doppelalbum »Live/Dead« von Grateful Dead schreibt er: »Die Töne hängen da, einzeln, blau und rot, platzen auseinander in Töne, die da hängen, einzeln, blau und rot, auseinanderplatzen, und dann ist vielleicht jeder Ton ein Stromstoß.« Okay, das ist gaga, aber so wunderbar unpräzise versponnen wie ein gutes Stück Psychedelic selbst und so subjektiv ergriffen, wie man es in Plattenkritiken nur dann liest, wenn der Kritiker vom erschütternden Gefühl überwältigt wird, einem historischen Moment beizuwohnen. Plattenkritiken dieser Art sind bereits im Laufe der Neunziger selten geworden. Doch Beliebigkeit, Routine und Tagesgeschäft gab es auch schon zu Salzingers Zeiten. Über Zappa schreibt er 1970: »Wer ihn auf seiner Deutschland-Tournee gesehen hat, der wird verstehen, warum ich ihn einen Karajan der Pop-Musik nenne.«

Helmut Salzinger: Best of Jonas Überohr. Popkritik 1966–1982. Philo Fine Arts, Hamburg 2010, 368 Seiten, 16 Euro