19.08.2010
Pierre Bourdieus »Algerische Skizzen«

Die koloniale Erfahrung

Wie der Soziologe wurde, was er war: Pierre Bourdieus »Algerische Skizzen«.

Lange bevor er zu einem der einflussreichsten Soziologen der Gegenwart wurde, forschte Pierre Bourdieu als Ethnologe in Algerien. Das war Ende der fünfziger Jahre und in jeder Hinsicht brisant. Es herrschte Krieg. Seit 1954 kämpfte die antikoloniale Bewegung unter der Führung des Front National de la Libération (FLN) gegen die französische Kolonialmacht. Als Soldat war Bourdieu 1955 nach Algerien gekommen, erste Feldforschungen begann er 1958. Er war ein Gegner der Kolonialpolitik und befand sich als französischer Wissenschaftler in Algerien deshalb in einer heiklen Situation.
Der Suhrkamp-Verlag hat nun sowohl die in Algerien entstandenen als auch die später zu Algerien verfassten Texte in einem Band versammelt. Bourdieu musste das Land 1961 verlassen, bezog sich im Laufe seiner Karriere als Sozialforscher aber immer wieder auf die koloniale Erfahrung in Algerien. Dabei ging es ihm nicht nur um die Situation der verarmten Landbevölkerung, um die besondere Lebensweise der Kabylen oder um die Folgen der kolonialen Umsiedlungspolitik. Die Studien zu Algerien beschränken sich nicht auf solche konkreten Forschungsergebnisse. Der Titel »Algerische Skizzen« ist insofern sehr treffend gewählt, denn es handelt sich tatsächlich vielfach um Vorstudien: Bourdieus gesamte Sozialtheorie hat hier ihre Grundlegung erfahren, inklusive ihres Verhältnisses zum politischen Engagement. Der Band bedient also nicht nur ein Interesse für die französische Kolonialgeschichte. Und er bietet wesentlich mehr als nur soziologisches Material zu einem sogenannten Entwicklungsland.
Nun ist es nicht so, dass Bourdieu als Ende zwanzig-, Anfang dreißigjähriger ehemaliger Philosophielehrer bereits souverän über alle Begriffe verfügt hätte, die für seine spätere Kultursoziologie prägend wurden. Die Konzepte von Habitus, Feld und Kapital finden sich in den frühen Schriften, wenn überhaupt, nur rudimentär ausgearbeitet. Kultur als eine spezifische Art und Weise zu beschreiben, »die Existenz ins Auge zu fassen«, wie Bourdieu es in einem Text von 1959 formuliert, mag zunächst banal klingen. Es benennt aber schon die vorbewusste, nicht an rationalen und intentionalen Motiven aus­gerichtete Dimension des Handelns. Es geht um kulturelle Muster als konstruierte, innere Orientierung, die wie die Sprache von den Individuen »erlebt und agiert wird, noch bevor sie von ihnen als solche gedacht wird«. Solche Prägungen beschreibt Bourdieu am Beispiel der weithin misslungenen Versuche, den Menschen in Algerien französische Gepflogenheiten zu oktroyieren. Dabei geht es nicht nur um Essgewohnheiten oder Benimmregeln, sondern um den Umgang mit Privateigentum und ökonomischer Rationalität. Bedeutsam ist Bourdieus These, die Einführung einer Wirtschaftsweise setze die »Existenz eines bestimmten Systems von Einstellungen gegenüber der Welt und gegenüber der Zeit voraus«. Warum gegenüber der Zeit? Ohne Perspektive auf die Zukunft ist Sparen sinnlos und Kreditvergabe unmöglich. Die Disposition zum Kapitalismus, so ließe es sich zuspitzen, muss allererst erzeugt werden. Indem er am Beispiel der algerischen Landbevölkerung aufzeigt, dass ökonomisches Denken keineswegs eine anthropologische Konstante, nicht allen Menschen gleichsam von Geburt an mitgegeben ist, kritisiert Bourdieu schon früh die dominanten Schulen der Wirtschaftstheorie, die genau dies voraussetzen. Eine Kritik an der »Naturalisierung« sozialer Prozesse übrigens, die sich in den neunziger Jahren auch in seinen publizistischen Attacken gegen die von ihm so genannte »neoliberale Offensive« wiederfindet. Im Anschluss an den großen Streik bei der französischen Bahn 1995 war Bourdieu verstärkt in der Öffentlichkeit aufgetreten, um als Intellektueller gegen Privatisierung und Deregulierung Stellung zu beziehen.
Die algerische Landbevölkerung ist politisch gesehen aber noch in ganz anderer Hinsicht beispielgebend. Bourdieu hat sich nicht nur für die katastrophalen Auswirkungen der Kolonialpolitik auf die – streckenweise fast etwas glorifizierend beschriebenen – gewachsenen sozialen Zusammenhänge interessiert. Auch die Reaktionen darauf, also das Entstehen der »Befreiungsbewegungen«, erweckten immer wieder sein Interesse. In zwei recht unterschiedlichen Artikeln, »Vom revolutionären Krieg zur Revolution« und »Revolution in der Revolution«, greift er noch während des Unabhängigkeitskriegs in die Debatten unter den französischen Intellektuellen ein. Er intervenierte damit in linke Diskussionen, die er für weitgehend substanz- und ahnungslos hielt. Zwar habe der Krieg zu einer politischen Sensibilisierung, insbesondere auch unter Frauen, geführt. Daraus zu folgern, dass die am meisten von der kolonialen Repression Betroffenen sich am ehesten politisch mobilisieren ließen, hielt Bourdieu aber für einen empirisch unzulässigen und politisch gefährlichen Kurzschluss.
Er widersprach damit auch Jean-Paul Sartre, der in seinem berühmten Vorwort zu Frantz Fanons »Die Verdammten dieser Erde« nicht nur die antikoloniale Gewalt verherrlicht, sondern auch ganz auf die »ländlichen Massen« als Wegweiser für die Revolution gesetzt hatte. Ausgerechnet von denjenigen eine gestaltende Kraft für die Zukunft eines Landes zu erwarten, die, wie die Bäuerinnen und Bauern oder auch das städtische Subproletariat, nicht einmal über die Mittel verfügen, ihren Lebensalltag zu bewältigen, erscheint Bourdieu als völlig irrige Annahme. Dass ein »Minimum an Zugriff auf die Welt« notwendig sei für politische Handlungsfähigkeit, auch dieses Argument taucht in den neunziger Jahren wieder auf. Bourdieu wendet es gegen die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse im neoliberalen Kapitalismus.
Die »Algerischen Skizzen« zeigen Bourdieu als einen Ethnosoziologen, der sich selbst und seine Profession gerade aufgrund der Lage, in der er sie ausübt, permanent kritisch reflektiert. Diese Zweifel münden nicht nur in sympathische Interviewsätze wie »Und alles war so kompliziert und ging weit über meine Möglichkeiten!« Es hat auch zur Begründung einer eigenen Methode geführt. Bourdieu nennt sie »teilnehmende Objektivierung«. Soziologie verlangt eine Distanz zum Gegenstand, auch eine politische, und doch ein Sich-Einlassen auf die Befragten. Sich dabei auch noch selbst als Sozialwissenschaftler zu beobachten, bedeutet nicht, beim Forschen die eigenen Befindlichkeiten zu protokollieren, sondern zielt auf die Offenlegung der Bedingungen von Sozialwissenschaft überhaupt, auf die »Voraussetzungen wissenschaftlicher Objektivität.«
Schon 1975 hatte Bourdieu in diesem Zusammenhang die »Dekolonisation der Soziologie« gefordert. Inhaltlich nahm er damit durchaus schon Aspekte jener Kritik vorweg, die von lateinamerikanischen Autoren wie Catherine ­Walsh und Walter Mignolo seit den neunziger Jahren unter dem Stichwort der »Dekolonisierung« an der Formierung der Wissenschaften und des Wissens schlechthin geübt wurde. Insofern bietet der Band auch die Möglichkeit, Bourdieu als post- oder dekolonialen Denker zu entdecken. Auch wenn einige Texte des Bandes bereits auf Deutsch veröffentlicht worden sind, ermöglicht die Zusammenstellung neue Einblicke und macht unerwartete Verbindungslinien erkennbar.

Pierre Bourdieu: Algerische Skizzen. Berlin 2010, Suhrkamp-Verlag, 523 Seiten, 32,90 Euro.