Über den Boom des Behinderten-Films

Eingeschränkte Bewegungsbilder

Anmerkungen zum neuerlichen Boom der Behindertenfilme.

Der japanische Dichter Kenzaburo Ôe, Vater eines geistig behinderten Sohnes, hat sich in seinen Arbeiten immer wieder mit der Frage beschäftigt, was der Umgang mit Behinderten über Kulturen und Gesellschaften aussagt. Seine große These lautet, grob gesagt, dass man den Charakter einer Gesellschaft an ihrem Umgang mit Minderheiten, Randgruppen und Behinderten genauer als an allem anderen erkennen könne. Es geht am Ende nicht um die Großzügigkeit des Mainstream, nicht um Mitleid, nicht um Integration, es geht vielmehr darum zu erkennen, dass es Behinderte nicht gibt. Es gibt nur Menschen. Die Kunst und noch mehr die Populärkultur also beschreibt mit dem Motiv der Behinderung stets drei Dinge gleichzeitig: Sie gibt ein mehr oder minder realistisches, mehr oder minder geschöntes Bild des Umgangs der eigenen Kultur mit Behinderten; sie gibt ein Modell dafür, macht Vorschläge oder kritisiert falsches Verhalten, und sie gibt schließlich eine Definition von Behinderung oder überwindet eben diese Definition. Das ist offensichtlich mehr, als eine Filmkultur, zum Beispiel, in unserer Gesellschaft zu leisten vermag.
Zuerst mal, relativieren können wir später, eine steile These: Was uns Drastikern und Subversiven, den Mitternachtskinofreunden und den Schundsammlern der Zombie-, Vampir- und Monsterfilm ist, das ist für artige Arthouse-Besucher der »Behindertenfilm«, wie man ihn jetzt wieder bei »Me Too« (Liebesgeschichte mit Behinderung), »Die Blindgänger« (Girlgroup, sehbehindert) oder »Schmetterling und Taucherglocke« (Yuppie, vom Schlag getroffen, schreibt Memoiren mit dem Augenlid) bewundern und höchstens ein bisschen kritisieren darf. Etwas stimmt nicht mit dem Körper, und der Normalo will es verhandelt sehen am Körper jenes anderen, den er mit einer Mischung aus Angst, Mitleid und Unbehagen studiert. Der Behinderte und das Monster, das war ursprünglich ein und dasselbe, der nicht-normale Körper, der nicht-normale Geist, ein Zeichen (daher das Wort, von monstrare) , eine Botschaft, schwer zu entschlüsseln, ambivalent. Platon beispielsweise unterschied zwischen dem Wahnsinn, an dem der Mensch selber schuld ist, und jenem Wahnsinn, durch den sich die Götter äußern, in Zorn oder Güte. Und er musste zugeben, dass das eine vom anderen durch den menschlichen Blick schwer zu unterscheiden ist. Noch einmal, in dem Wahnsinnsfilm »Freaks« von Todd Browning, und ein bisschen noch bei Luis Buñuel und Werner Herzog, begegneten sich Monster- und Behindertenfilm, gewalttätig, groß und schön. Dann teilte sich das auf in den Monsterfilm (Zeichen ohne Geschichte) und den Behindertenfilm (Geschichten ohne Semantik).
Der Behindertenfilm ist an der Oberfläche eine Art appellatives Feelgood-Movie, und in den Kritiken liest man dann gerne Worte wie »menschlich«, »unsentimental« und immer wieder »ganz normal«. Eben darum geht es nämlich, um die Konstruktion der Normalität. Der Monsterfilm schließt nach wie vor den Behinderten (den Wahnsinnigen, den Verkrüppelten, den Verwachsenen) aus, der Behindertenfilm dagegen schließt ihn nach wie vor ein. Beides liegt am Ende nicht im Sinne der betroffenen Subjekte – weshalb Behindertenfilme in aller Regel gerade ein Publikumssegment ziemlich eindeutig verfehlen, nämlich die sogenannten Behinderten (ganz abgesehen übrigens davon, dass Behindertenfilme merkwürdig häufig in Kinos laufen, die für eine Reihe von Behinderten nicht zugänglich sind). Um zu verstehen, warum Behindertenfilme so mainstreamtauglich sind, muss man wohl einen kleinen Ausflug in die Geschichte unternehmen.
Es sind drei große Diskurswechsel im Verhältnis der Gesellschaften zu »ihren« Behinderten zu beobachten. Von der archaischen Ambivalenz, wo das »Monster« so schnell heilig erscheinen konnte wie es »grausam« ermordet oder verjagt werden konnte, führte das erste zum ausgeschlossenen Objekt des Erbarmens. Nur scheinbar paradox ist, dass das (zum Beispiel christ­liche) Mitleid mit einer Radikalisierung der Ausschließung einherging: Barmherzigkeit und Behinderung definierten einander, während eine Vermischung von »Normalen« und »Behinderten« als Bild des »heidnischen« Karnevals erschien – und hier übrigens »spielten«, lange vor Lars Triers »Idioten«, die Normalen »Behinderte«, und Behinderte spielten »Normale«.
Der nächste Diskurswechsel stand im Zeichen der Wissenschaft, der Aufklärung und der Ordnung. Nun ging es in erster Linie darum, den Behinderten zu kategorisieren und zu disziplinieren. An die Stelle von Barmherzigkeit trat die Zurichtung, man glaubte der Behinderung mit Technik Herr zu werden, es war die Zeit der Zwangsjacken und Streck-Apparate, und es war, übrigens bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, die Zeit der »Freak Shows«, in der der Bürger vor den »Launen der Natur« erschauerte, vor der hinter Glas und Gitter ausgestellten obszönen Unkontrolliertheit.
Scheinbar radikal humanistisch dann der nächste Diskurswechsel zwischen Gesellschaft und Behinderten, nicht unwesentlich befördert durch die gewaltige Anzahl der Behinderten nach dem Ersten Weltkrieg: Auf die barmherzige und die wissenschaftliche Ausschließung folgte eine bedingte Einschließung. Der Behinderte sollte möglichst vollständig wieder »Mitglied der Gesellschaft« werden, sollte arbeiten können, seine Behinderung sollte möglichst unsichtbar werden, und unsichtbar sollte er auch in der Konvention werden: Es war ein, schließlich auch medial ausgeweitetes, Erziehungsziel, Behinderte nicht »anzustarren«, sie »normal zu behandeln«, Hilfe diskret zu gestalten. Das Blickverbot, das Behinderung zu einer Art offenem Geheimnis machte, führte bereits zu einem ersten Medialisierungsschub. Einige Untersuchungen zeigen, wie etwa das amerikanische Fernsehen seit den fünfziger Jahren, bis zum nächsten Diskurswechsel in jüngster Zeit, »Normalität« neben den Diskursen von Rasse, Generation und Geschlecht auch in dem über Behinderung erzeugte. Der behinderte Mensch wird nicht nur in bestimmten Institutionen (vorwiegend natürlich in der Familie), sondern auch in bestimmten Codes »eingeschlossen«. Er muss freiwillig und gutmütig einen Teil ihrer Souveränität und Freiheit abgeben, sich »dankbar« zeigen, muss die »normalen« Menschen bei Laune halten und darf im Übrigen weder sexuelle noch geistige Ansprüche stellen, er bildet einen gruppendynamischen Ruhepol. Behinderte, die sich den Einschließungs- und Anpassungsanforderungen entziehen, verwandeln sich (nicht nur) im Medienbild wieder in säkulare Monster oder müssen schmerzhaften melodramatischen Erziehungsprozeduren unterworfen werden.
Die Geschichte des Behindertenfilms als Genre mit etlichen Untergenres (Behinderten-Roadmovie, Kriegsverletzten-Film, Behinderten-Thriller etc.) entspricht, wenn auch mit feinen Abstufungen und mal sympathischen und häufig weniger sympathischen Beispielen, ganz und gar dem Diskurs der bedingten Einschließung und des Mainstreaming des Behinderten an Körper und Geist. Verhalten und Verhältnisse werden in den Filmen und Fernsehserien ausgehandelt. In vielen Fällen, auch wieder in »Schmetterling und Taucherglocke«, muss der Behinderte teils durch professionelle, teils durch affektive Zuwendung aus einer eigenen, subjektiven Ausschließung, bis hin zum Todeswunsch und der radikalen Kommunikationsverweigerung, heraus- und ins allgemeine Leben zurückgeholt werden. Eine Minderheit von Filmen akzeptiert auch ein selbstbestimmtes Sterben. Doch kein westlicher Film (in Nollywood sieht das anders aus) akzeptiert ein Ausgeschlossenbleiben. Aber dafür haben wir ja die Monster- und Zombiefilme, die das Ganze von der anderen Seite her betrachten: Hier sehen wir, und sei es durch die Augen der Zombies, die wahren Kräfte der Ausschließung, des Sadismus und der Mordlust der »Normalos«.
Der neue Diskurswechsel, angeregt gewiss durch Michel Foucaults Untersuchungen über das Strafen und Kontrollieren, die Mikrophysik der Macht und die Biopolitik, und begründet in den »Disability Studies« (bewusst in Anlehnung an Gender Studies entstanden), befreit den Behinderten aus seiner Objekt-Zuschreibung durch die Mainstream-Gesellschaft. »Behinderung« ist weder von Gott, noch vom Schicksal, noch von der Natur, sondern von Kultur und Gesellschaft konstituiert. Behindert ist man nicht, behindert wird man von einer Gesellschaft, die sich an Standards und Normen ausrichtet. Normalität ist nicht minder eine Konstruktion als Behinderung.
Der Weg ist zu beschreiben, nach Markus Dederichs Überblick, »von der metaphysischen und religiösen Deutung als Monster zur medizinischen Pathologie und Anomalie, von der Einbettung in einen geschlossenen religiös-moralischen Kosmos zur Festschreibung biologischer, physikalischer und chemischer Kausalketten, von der affektiv aufgeladenen Zurschaustellung menschlicher Kuriositäten hin zu manchmal handwerklich-pragmatischen, manchmal sozialethisch überhöhten Praktiken des modernen Bioengineerings«. In diesem Fluss von Diskurs-Macht sich zu erheben und eine Autonomie einzufordern, die nicht einmal die »wohlmeinende« Gesellschaft gewähren will, von jenen zu schweigen, die ihr bisschen Selbstbewusstein an der Verachtung für »Spasties« hochziehen, oder den anderen, für die Behinderung etwas ist, was man bürokratisch und ökonomisch effizient zu verwalten hat, ist verteufelt schwer. Leicht ist auch die Frage nicht zu beantworten, ob der wohlmeinende Behindertenfilm dabei Verbündeter oder Gegner ist.
Vielleicht liegt es in der seltsamen Konstruktion des Filmischen, dass in vielen Behindertenfilmen Vorgriffe und Rückfälle in diesem Diskurssystem zu beobachten sind. Exemplarisch scheint das in den fünf beliebtesten Plot-Kons­truktionen.
Im Behinderten-Roadmovie geht es in aller Regel um eine kleine Gruppe, die den Zwängen und Zuschreibungen des Einschließungs- und Anpassungsdiskurses entkommt, Einschließung in der Familie, Einschließung in den entsprechenden Heimen: Auf der schönen Flucht begegnen sie allen möglichen Verhaltensweisen, von schroffer Ablehnung über Gleichgültigkeit bis zu selbstverständlicher Zuwendung. Übrigens sind die schönsten Behinderten-Roadmovies nichts anderes als verkappte Western, Filme über Menschen, die ihr Glück im Unterwegssein finden, weil es in Wahrheit keinen Ort in der Gesellschaft für sie gibt. Weil aber die Flucht irgendwo ein Ende nehmen muss, steht am Ende des Behinderten-Roadmovie eine Einschließung auf höherer Ebene.
Dazu gehören in aller Regel klare Sympathieverteilungen, wie sie unter »Normalos« nicht mehr recht üblich sind. Das gilt auch für »Verrückt nach Paris« (2001). Die Freunde Hilde, Karl und Philip leben in einem Heim für Behinderte, arbeiten als Küchenhilfe oder stellen in der anstaltsinternen Manufaktur »Watschelenten« her. Ihr Betreuer Enno (Dominique Horwitz) hat über die Jahre seine Empathie verloren und erledigt nur noch stumpf seinen Job. Er versaut Karl die Möglichkeit, zu einer betreuten Werkstatt nach »draußen« zu kommen, und die drei Freunde nutzen einen Watt-Ausflug zur Flucht, um an ihren Traumort, Paris, zu gelangen; Enno wird auf ihre Spur gesetzt, natürlich muss auch er seine Lektion lernen. Die professionellen Schauspieler Dominique Horwitz, Corinna Harfouch, Martin Lüttge, Doris Kunstmann, Hermann Lause, Marion Mitterhammer und Aglaia Szyszkowitz spielen zusammen mit drei Behinderten des Bremer Blaumeier-Ateliers: Paula Kleine spielt Hilde, Frank Grabski Philip und Wolfgang Göttsch Karl. Was dabei entsteht, ist eher das Bild eines gemeinsamen Traums denn eine sonderlich realistische Darstellung. Aber akzeptabel ist das schon für eine Gesellschaft, die anfängt, ihren Behinderten-Bildern nicht mehr zu trauen.
Neuere Behinderten-Roadmovies wie »Aaltra« (2004) versuchen immerhin, Stereotype wie »böse Anstaltsleiter/in« oder »Behinderung als Bewährung« zu vermeiden oder zu ironisieren: Ben und Gus, Nachbarn an einer Landstraße im Norden Frankreichs, sind seit Jahr und Tag miteinander verfeindet. Bei einer Prügelei geraten sie unter einen Traktoranhänger und werden dabei so schwer verletzt, dass sie nun beide als Querschnittsgelähmte auf den Rollstuhl angewiesen sind. Nach Selbstmordversuchen beschließen sie, gemeinsam nach Finnland zu trampen, um dort den Hersteller des Anhängers zu verklagen, und diese Reise bietet die Gelegenheit, alle Verhaltensformen in der Gesellschaft, von Aggression über Gleichgültigkeit und Mitleid zu gewöhnlicher Menschlichkeit, zu entfalten.
Eng verwandt mit dem Behinderten-Roadmovie ist das Behinderten-Buddie-Movie (interessanterweise darf man übrigens, siehe »Dumm und Dümmer«, über zwei Behinderte eher lachen als über einen einzelnen). Jüngstes Beispiel: »Inside I’m Dancing« (2004), ein irisches Buddie-Movie über den Versuch zweier körperlich behinderter junger Männer, selbstbestimmt zu leben, und das, was dagegen spricht.
Dritter Plot-Schauplatz ist die Familie, die sich, zum Beispiel, überfürsorglich um die Behinderten zusammenzieht wie in »Ganz normal verliebt« (1999 von Gary Marshall): Carla Tate ist geistig leicht behindert, kann aber nach zehn Jahren in einem speziellen Internat mit einem Schulabschluss auf ein mehr oder weniger normales Leben hoffen. Doch auf dem Weg zu Arbeit und, vor allem, zur Liebe wird sie von ihrer übervorsichtigen Mutter Elizabeth, nun ja: behindert. Eine Familiengeschichte wie »My Name is Sam« (2001, von und mit Sean Penn), wo ein geistig behinderter Vater um seine Tochter kämpft, und natürlich kleine Klassiker wie »Forrest Gump« oder »Stanley und Iris« erzählen davon, wie die Rechte von Behinderten in der Gesellschaft ausgehandelt werden.
Der vierte Plot, dem wir mit größtem Misstrauen begegnen, übernimmt die Formel von Bewährung und Erfolg. Behinderte setzen sich in der sportlichen, musikalischen oder beruflichen Wettbewerbsgesellschaft durch wie in »Die Blindgänger« (2004, Regie: Bernd Sahling): Die beiden 13jährigen Mädchen Marie und Inga leben in einem Internat. Sie gehen dort auf eine Blindenschule. Beide sind begeisterte Musikerinnen und bewerben sich auf eine Anzeige einer Schülerband. Die Jungs dieser Band sind zwar von den musikalischen Fähigkeiten der Mädchen begeistert, halten sie aber, echt jetzt, nicht für »medientauglich« in Musikvideos. Doch davon lassen sich die Mädchen natürlich nicht entmutigen. Dann gibt es einen »Russlanddeutschen« auf der Flucht vor Polizei und bösem Vater, für den die blinden Mädchen als Straßenmusikerinnen Geld sammeln, das aber wieder gestohlen wird. Mit einem neuen Freund bekommen sie eine neue Band, natürlich »die Blindgänger« des Titels, und endlich auch das richtige Video zusammen (mit der Hilfe eines lieben Internatsbetreuers), und gewinnen im Fernsehwettbewerb so viel Geld, dass sie ihrem russlanddeutschen Freund die Heimreise nach Kasachstan finanzieren können. Wir versagen es uns an dieser Stelle, über symbolische Ordnungen, soziale Standards und Manufaktur der Konsensgesellschaft nachzudenken, behalten uns aber die Möglichkeit vor, ideologiekritisch über den Missbrauch von Behinderung nachzudenken.
Der fünfte Plot ist die Behinderten-Liebesgeschichte, so wie gerade eben in dem spanischen Film »Me Too«: in der Hauptrolle der erste Spanier mit einem Down-Syndrom, der einen Hochschulabschluss erzielte. Daniel (Pablo Pineda) verliebt sich in eine eigenwillige schöne Kollegin, Laura (Lola Duenas, die wir schon aus »Das Meer in mir« kennen). In einem Aufzug spielt Daniel den »Bekloppten«, um Laura und die andern Anwesenden aus der Reserve zu locken. »Spiel hier nicht den Bekloppten« fährt Laura ihn an, und die Anwesenden sind entrüstet: »Sie sehen doch … « Ja, was sehen wir? Erst Daniel und dann auch Laura müssen lachen. Aber wenn damit schon der konstituierende Blick des Mainstream als Produzent der »Behinderung« entlarvt worden sein soll, scheint man es sich doch etwas einfach zu machen.
Letztlich überschreitet ein Film wie »Me Too« die Grenzziehung zwischen normal und behindert nicht, er löst sie nur auf, und im schlimmsten Fall wird sie dann neu gezogen: Der Bereich der »Normalität« wird erweitert, der Bereich der Behinderung dagegen prekärer.
Der sechste Plot ist jener Kampf ums Leben, wie ihn Julian Schnabels »Schmetterling und Taucherglocke« beschreibt. Er erzählt den wahren Fall des Chefredakteurs der Zeitschrift Elle, Jean-Dominique Bauby (Matheiu Amalric), der im Alter von 42 Jahren durch einen Hirnschlag beinahe vollständig gelähmt worden ist. Nur das linke Augenlid kann er noch bewegen. Er, der im Leben zuvor so erfolgreich und genussfähig war, will nun nur noch sterben. Es ist die Therapeutin Henriette (Marie-Josée Croze), die ihm zuerst beibringt, mit dem Blinzeln des Auges eine Sprache zu finden und dann wieder Mut zum Weiterleben. Auf diese Weise schreibt er schließlich seine Autobiografie.
Natürlich kann man etliche dieser Filme als humanistisch übermalte Freakshows ansehen, aber wahrscheinlich ist es doch ein wenig zu wohlfeil, Behindertenfilme durch die Bank als Seelenmassage für Kleinbürger-Gutmenschen und Bühne für Stars auf der Suche nach einer »schauspielerischen Herausforderung« zu kritisieren (Ben Stiller macht sich aber trotzdem sehr treffend darüber lustig in »Tropical Thunder«). Solange es Behinderte gibt, muss es auch Behindertenfilme geben und leider auch, in der Regel besonders gedankenlos, die Quoten-Behinderten in der Serienwelt des Fernsehens. Dem letzten und wichtigsten Diskurswechsel aber, nach dem wir Behinderung und Normalität als Begriffe, Definitionen und Erzählungen fundamental in Frage stellen, sind die gängigen Kinogeschichten und  -einstellungen einfach nicht gewachsen. Stattdessen geraten sie selber in den Focus von Disability Studies. Die Frage ist nicht bloß: Wie stellen Filme Behinderung dar, die Frage ist vielmehr: Wie erzeugen Filme Behinderung?
An den Schnittstellen von Disabilty Studies und Life Sciences begegnen sich alle Diskurse wieder; nun ist Differenz nicht mehr das durch Schicksal oder Natur erzeugte, aber auch nicht allein das sozial und diskursiv, sondern vor allem das technisch erzeugte. Ganz direkt ersteht im Popcorn-Kino der behinderte Mensch als Super-Maschinenwesen wieder auf, und ob die Andersartigkeit zum Beispiel der »X-Men« mehr posthumanes Fähigsein oder soziales Freaksein bedeutet, ist ohnehin unentschieden. In »Gattaca« (1997) wird die Dystopie einer Gesellschaft entworfen, in der Menschen ausschließlich nach ihrer DNA bewertet werden und nur »perfekte« bzw. perfektionierte Menschen akzeptiert, und gegenüber den endlos gelifteten, verschönten, begradigten und geglätteten Stars und Promis, den verschönten Politikern und Barbie-Imitaten der Medien ist ohnehin jeder »Normalo« ein Behinderter. Schließlich existiert eine ganze Subkultur von Menschen, die im Behindertsein ein anderes Schönheitsideal gefunden haben, die sich im Extremfall (im Sprachgebrauch des »Normalos« wiederum) freiwillig verstümmeln, um sie selber zu sein, ganz analog zu Menschen, die das Geschlecht wechseln, um in sich zu Hause zu sein.
So könnte man wohl am Ende auch diesen Diskurs umdrehen: Nicht der Behinderte braucht den Normalo, sondern der Normalo braucht den Behinderten, um gegen eine neue Bedrohung zu bestehen, den biopolitisch erzeugten, kosmetisch und chirurgisch zugerichteten, den genetisch ausgewählten und verbesserten, den körperlich und geistig gedopten, kurz den Super-Normalo als feuchten Traum von Medien und Konzernmacht. Gegen Supersportler und lebende Barbie-Puppien ist auch der Normalo behindert, der sich in der Illusion wiegte, der natürliche und richtige Mensch zu sein; die Identifikation mit dem Behinderten in den gängigen Erzählmodellen betrifft nicht nur die wachsende Wahrscheinlichkeit, früher oder später Behinderung am eigenen oder am Körper des Nächsten zu erfahren, sondern auch die allgemeine Herabstufung gewöhnlicher Körperlichkeit im neoliberalen »Rat Race«. Behindertenfilme geben das Selbstmitleid einer Gesellschaft wieder, die den Körper nur noch als maschinelle Effizienz oder zur sexuellen/familiären Unterhaltung zulässt.
Offensichtlich zeichnet sich ein weiterer Diskurswechsel ab: Im neu erfundenen, zerlegten, wieder zusammengesetzten, reduzierten und erweiterten Körper gibt es auch keine ästhetische Entsprechung mehr für »behindert«. Schönheit richtet sich, ganz im Gegensatz zur Barbie- und Fitness-Kultur der Mainstream-Mittelwertigkeit, nicht mehr am Ideal aus, sondern in einer neuen, freieren Semantik. Genau hier setzte ein parallel zu den Diskurswechseln, aber nicht unbedingt synchron zu ihnen entwickeltes Kino der Behinderungen ein. Vor 20 Jahren war es in dem schönen kleinen Behinderten-Roadmovie »Das Mädchen mit den Feuerzeugen« noch ein flapsiger Spruch eines Rollstuhlfahrers: »Ich wollte immer was Besonderes werden. Und jetzt bin ich was Besonderes. Ein Behinderter.« Immer steckt etwas von dieser indirekten Utopie im Genre, der Zuschreibung, der Behinderung durch die Gesellschaft entgegenzutreten. Doch um zu einer anderen Sprache der Körper zu gelangen, muss (oder doch: müsste) jeder Behindertenfilm durch eine soziale Realität, durch ausgedehnte Untiefen von Kleinigkeiten, durch die ökonomisch-alltäglichen Tücken hinter den großen Gesten.
Wahrhaftige Filme über Behinderungen würden demnach zunächst nicht von Familien und Freundschaften, von Ängsten und Sehnsüchten, von Bewährungen und Versöhnungen handeln, sondern von alltäglichen, zermürbenden Kämpfen mit Bürokraten, von heimtückischen Formularen, von medizinischen Maschinerien ohne Empfindung, von einer Politik fortgesetzter Heuchelei, von ökonomischer Ausbeutung und neuerlicher Ausgrenzung: Beim Geld hört im Neoliberalismus institutionelle »Behindertenfreundlichkeit« auf (das heißt: sie fängt sehr häufig gar nicht erst an). Daher gehen die intimistischen Trost-Angebote der meisten Behindertenfilme, auch was dies anbelangt, an der Wirklichkeit vorbei. Sehen wir unsere Behindertenfilme mit dem Blick von Kenzaburo Ôe und mithilfe von »Disability Studies« an. Erst bei sehr genauem Hinsehen wird das wahre Monster erkannt. Das Monster der »Normalität«.