Über die Roma-Politik der Europäischen Union

Die Verdammten von Europa

In ganz Europa werden Roma ausgegrenzt, diskriminiert und von antiziganistischen Angriffen bedroht.

Es dauerte lange, bevor sich die EU-Justizkommissarin Viviane Reding zur jüngsten Ausweisung von Roma aus Frankreich äußerte. Schließlich meldete sie sich am 23. August doch zu Wort. Die Kommission sei »sehr besorgt«, sagte sie. Zuvor hatte der italienische Innenminister und Lega-Nord-Politiker Roberto Maroni es als vorbildlich bezeichnet, dass Frankreich seit Jahresbeginn über 8 300 Roma ausgewiesen hat, obwohl diese als EU-Bürger europaweite Freizügigkeit genießen. Reding fürchtete angesichts dieser Debatte eine »Stigmatisierung« und kündigte eine »rechtliche Prüfung« des französichen Vorgehens in Form einer juristischen Studie an. Sie wies darauf hin, dass die Kommission seit Jahren auf das Problem der größten ethnischen Minderheit in Europa aufmerksam mache, und erinnerte an den zweiten »Roma-Gipfel« der Kommission, der Anfang April in Cordoba stattgefunden hatte.

Rudko Kawczynski kann darüber nur lachen. Der 56jährige Rom ist Sprecher des Europäischen Roma-Forums (ERF), des Dachverbands der Roma-Vereinigungen. Obwohl seine Organisation die größte demokratisch gewählte Interessenvertretung der Roma in Europa ist, ist er vom Roma-Gipfel ausgeladen worden. Beim ersten Gipfel 2008 war das anders: Da war das ERF als Gesprächspartner dabei. Doch nachdem Kawczynski dort gesagt hatte, die Zustände in der EU seien für Roma »schlimmer als für Schwarze während des Apartheid-Regimes in Südafrika«, hatte Redings Kollege, der EU-Sozialkommissar Valdimir Špidla, angekündigt, beim nächsten Gipfel niemanden mehr zuzulassen, der »radikale politische Positionen« vertrete. »Damit waren wir gemeint«, sagt Kawczynski.
Dabei gründet der Roma-Sprecher seinen Befund auch auf Statistiken aus dem Hause Špidlas. Eine im Juli 2009 in dessen Auftrag veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Lebenserwartung von Roma in Europa zehn bis 15 Jahre niedriger ist als die der meisten EU-Bürger. Sie würden vor allem in Osteuropa von der Schulbildung ausgeschlossen und seien überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen. Die künftige Roma-Generation drohe »in tiefer Armut zu verharren«, heißt es in dem Bericht. Zwei Monate später zog auch die Hochkommissarin für Menschenrechte der UN, Navanethem Pillay, eine erschreckende Bilanz. So seien Roma in Ungarn »tödlichen Angriffen«, in der Slowakei »schweren Misshandlungen durch die Polizei« und in Italien »erniedrigender Behandlung« ausgesetzt. Gewaltsame Vertreibungen, direkte oder indirekte Diskriminierung von Roma gebe es in 17 europäischen Ländern, darunter Finnland, Frankreich, Schweden und Großbritannien.
»Die EU, die OSZE, die Weltbank, alle haben das immer wieder untersucht und kommen jedes Mal zu demselben Ergebnis, wie eine kaputte Schallplatte«, sagt Kawczynski. »80 Prozent der Roma leben in Ghettos, die Kindersterblichkeit ist drei Mal so hoch wie im EU-Durchschnitt.« In der Slowakei habe es bis in die neunziger Jahre Zwangssterilisationen von Roma gegeben, für die niemand zur Rechenschaft gezogen worden sei. In vielen Ländern komme es zu Übergriffen durch Polizei und Rechtsextremisten. Eine Anfrage der ERF habe ergeben, dass im riesigen EU-Apparat kein einziger Sinto oder Rom beschäftigt sei, sagt Kawczynski. Für ihn ist klar: »Man will uns nicht als Bürger – und zwar nirgends in Europa.«
Dass jetzt alle mit dem Finger auf Frankreich zeigen, findet Marko Knudsen vom Europäischen Zentrum für Antiziganismusforschung (EZAF) scheinheilig. Sarkozy hatte den ausgewiesenen Roma 300 Euro pro Erwachsenem und 100 Euro pro Kind angeboten, wenn diese »freiwillig« das Land verließen. »Kaum jemand erinnert sich noch daran, aber dieses Modell kommt aus Berlin«, sagt Knudsen. Das Land hatte im Juni 2009 einer Gruppe von 106 Roma aus Rumänien 250 Euro »Rückkehrprämie« gezahlt. Die Roma waren als Touristen nach Berlin gekommen, waren obdachlos und hatten gebettelt oder Autoscheiben geputzt. Weil einige von ihnen nach der 27 000 Euro teuren Aktion trotzdem in Berlin geblieben waren, hatten rechte Zeitungen gewettert, die »Bettel-Zigeuner« würden dem Senat »auf der Nase herumtanzen«.
Schlimmer noch als solche »Rückkehrprämien« findet Knudsen, dass immer häufiger dazu übergangen wird, Roma zu erfassen und zu internieren. 2008 hatten einige italienische Regionen einen »Notstand der Nomaden« ausgerufen. Damals wurde eine 16jährige Roma beschuldigt, in Neapel ein italienisches Kind entführt zu haben. Die Behauptung stellte sich als falsch heraus – der »Pogromstimmung«, wie Knudsen sagt, tat dies jedoch keinen Abbruch. »Rechtsradikale haben überall Roma-Ghettos mit Molotow-Cocktails angezündet. Statt sie zu schützen, hat die Regierung die Siedlungen mit Gewalt aufgelöst.« Die italienische Öffentlichkeit nahm die Pläne, Roma zu internieren, begeistert auf.
In Italien habe man von allen Roma, auch von den Kindern, Fingerabdrücke genommen und sie in einer speziellen Datenbank gespeichert. »Das verstößt eindeutig gegen die EU-Grund­rechte­­charta, weil es sich um eine spezifisch ethnische Datenbank handelt.« Knudsen berichtet erbost, dass das Rote Kreuz sich dafür hergegeben habe, die Datenerfassung umzusetzen. Auch Frankreich will die Roma biometrisch erfassen, angeblich um zu verhindern, dass die Ausreiseprämie doppelt kassiert wird. Skeptisch stimmt Knudsen, dass der Roma-Gipfel der EU-Kommission im April beschlossen hat, fünf Millionen Euro für die »Erfassung« von Roma bereit zu stellen.

In ganz Osteuropa kommt zur rassistisch aufgeladenen Stimmung in der Bevölkerung die blanke soziale Not der Roma. »Viele Roma kommen deswegen im Sommer in die westlichen Staaten, um dort etwas Geld zu verdienen. Das bringen sie dann ihren Familien zurück, damit die im Winter Essen und Brennholz bezahlen können. Da geht es ganz pragmatisch ums Überleben«, sagt Knudsen. In Italien werde ein Großteil der Ernte von osteuropäischen Landarbeiterinnen und Landarbeitern eingefahren, darunter seien viele Roma. Ob dies auch künftig so sein werde, sei fraglich. Knudsen fürchtet, dass andere Staaten dem französischen Modell folgen werden. Seit der Wirtschaftskrise habe sich die Stimmung gegen die Roma in den westlichen EU-Staaten verschärft. Roma seien gut als »Sündenböcke« geeignet, weil jeder Vorurteile gegen sie habe und sie über keine Lobby verfügten. »Im Süden Spaniens leben deutsche Aussteiger in Höhlen. Was meinen Sie, was los wäre, wenn Spanien versuchen würde, die abzuschieben?« sagt Knudsen.
Was die EU angeht, so scheint es, als habe sie nicht vor, Frankreich Schwierigkeiten zu machen. Nachdem sich der französische Premierminister François Fillon bereit erklärt hatte, noch in dieser Woche mit dem EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Justizkommissarin Reding über die französische Roma-Politik zu sprechen, kamen aus Brüssel beschwichtigende Gesten: Die von Reding angekündigte »Studie über die Rechtmäßigkeit des französischen Umgangs mit den Roma« solle nun nicht veröffentlicht werden, so ein Sprecher Redings. Die Kommission betrachte das Dokument als »internes Papier«.