Manifestationen für die Freilassung von Gilad Shalit in Israel

»Kein Preis ist zu hoch«

Tausende Menschen forderten die israelische Regierung dazu auf, sich auf einen Handel mit der Hamas einzulassen, um den seit vier Jahren entführten Soldaten Gilad Shalit freizubekommen. Die Hamas fordert im Austausch für ihn die Freilassung hunderter palästinensischer Häftlinge, von denen viele an Terroranschlägen beteiligt waren.

1 521 – das ist die Zahl, die über dem Protestcamp mit vier Zelten und unzähligen Transparenten an der Ecke der King-George-Street nahe dem Stadtzentrum von Jerusalem prangt. Die einzelnen auf Papier gedruckten Zahlen werden täglich aktualisiert. Sie markieren die Anzahl der Tage, die der israelische Soldat Gilad Shalit von der Hamas im Gaza-Streifen gefangen gehalten wird. Vor vier Jahren, am Morgen des 25. Juni 2006, drangen Angehörige der Qassam-Brigaden durch einen selbstgegrabenen Tunnel auf israelisches Territorium vor und griffen dort einen Posten an. Bei dem Überfall wurden zwei Soldaten getötet, Shalit wurde entführt.
Anfang Juni dieses Jahres machten sich die angehörigen Shalits mit Unterstützern und Unterstützerinnen von ihrem Wohnort in West-Galiläa zu einem zwölftägigen Protestmarsch nach Jerusalem auf, um die israelische Regierung dazu zu bewegen, die Verhandlungen mit der Hamas wieder aufzunehmen. Unter Vermittlung ägyptischer und deutscher Diplomaten war Ende November vorigen Jahres ein Plan ausgearbeitet worden, der zunächst die Entlassung von 450 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen vorsah. Erst dann hätte Shalit nach Ägypten gebracht werden sollen. Bedingung für seine Rückkehr nach Israel war die Entlassung von weiteren 700 palästinensischen Gefangenen. Die israelische Regierung ließ damals die Verhandlungen einschlafen.

Gilads Vater, Noam Shalit, bewies lange Zeit großes Vertrauen in die israelische Regierung und die Armee. In einem Interview vom Jahr 2006 hatte er noch gesagt, er würde sich nicht in Diskussionen um einen Gefangenenaustausch einmischen, das überlasse er der Regierung. Heute sieht er das anders. Nachdem es vier Jahre lang keinen Erfolg gab, musste nun endlich etwas passieren. Mit einigen Unterstützerinnen und Unterstützern entstand die Idee eines Marsches, der in Jerusalem mit der Errichtung eines Protestcamps enden sollte und dessen Forderung lautet: »Gilad muss freigelassen werden, egal, zu welchem Preis. Bis das nicht passiert ist, bleiben wir hier.«
Im Juli erreichte der Protestmarsch Jerusalem und das Camp wurde in unmittelbarer Nähe zum Wohnsitz Benjamin Netanjahus errichtet. »Wenn unser Premierminister morgens zu seinem Büro gefahren wird, kann er uns sehen«, sagt der Student Ilan und muss dabei grinsen. Besonders beliebt seien das Camp und die wöchentlichen Demonstrationen in Nähe der Knesset nicht, pflichtet die 17jährige Schülerin Avishag bei. Die Empörung ist ihr anzusehen: »Sie benutzen sogar einen anderen Eingang. Sie wollen uns nicht sehen!« Die Bevölkerung hingegen reagiere anders, die Unterstützung sei riesig, fügt sie hinzu. Ein Indikator dafür sind die neongelben Bänder, die einem unweigerlich auffallen, wenn man durch Jerusalem geht. Sie hängen überall, an Autos, an Fahrrädern, an Laternen und Bushaltestellen. Tausende werden jeden Freitag vor dem Schabbat verteilt. »Unsere Bänder sind ein Zeichen der Solidarität geworden«, erklärt Avishag, die seit Anfang des Jahres dabei ist. Sie erzählt, als sie davon gehört habe, dass die Familie Shalit für die Rückkehr ihres Sohnes kämpft, habe sie gewusst, »das ist etwas, was ich tun muss«. Zu den Aufgaben der jüngeren Aktivistinnen und Aktivisten gehört es unter anderem, die Website der Protestbewegung zu pflegen (gilad.org). »Wir haben unsere Website, sind bei Twitter, Myspace und Facebook. Über 200 000 Menschen unterstützen uns dort schon.«
Der Informationstisch ist immer besetzt, es kommen Leute und bringen Essen und Trinken vorbei, und einige halten einfach an, um ihr Mitgefühl zu zeigen. »Sie kommen aus dem ganzen Land und drücken uns ihre Solidarität aus«, sagt Noam Shalit. Gilads Vater ist fast jeden Tag im Camp anwesend. »Seit der Entführung meines Sohnes habe ich kein normales Leben mehr«, sagt er, »doch die Solidarität der Menschen gibt mir die Kraft, um weiterzumachen.« Noam Shalit ist sichtlich unkonzentriert. »All das hier ist auch anstrengend«, erklärt er. Einige Minuten später wird klar, was er meint. Eine Familie aus Be’er Sheva erscheint im Pavillon, sie möchten mit Gilads Vater sprechen und Fotos machen. Hand­shaking mit Mr. Shalit, eine schöne Erinnerung für viele Besucher. Wenige Minuten später sind die nächsten Besucher dran, die Noam in ein neues Gespräch verwickeln.

Gilads Vater ist offensichtlich eine Person des öffentlichen Lebens geworden. In Israel ist er sehr bekannt, über das Schicksal seines Sohnes wird in den Medien permanent diskutiert. »Das ist sicher belastend für Noam Shalit«, meint Ilan, »aber es hilft enorm, das Bewusstsein für die Situation Gilads im Gedächtnis der Menschen wach zu halten.« In den vergangenen Jahren bekamen Familie Shalit und die immer größer werdende Bewegung für seine Freilassung Unterstützung aus der Gesellschaft. Zuletzt gab der Stardirigent Zubin Mehta mit dem Israel Philharmonic Orchestra Anfang Juni ein Konzert direkt an der Grenze zum Gaza-Streifen. Die Boxen waren so ausgerichtet, dass Gilad das Konzert möglicherweise hatte hören können. So zumindest die Hoffnung, die der Dirigent in einem Fernsehinterview äußerte.
Inzwischen hat das Protestcamp auch zu ersten Reaktionen in der Politik geführt. Der Sprecher der Knesset, Reuven Rivlin, besuchte das Camp und versicherte, die Regierung werde alles tun, um eine Freilassung Shalits zu erreichen. Auch aus dem Militär gibt es Reaktionen. Eine große Gruppe Reserveoffiziere der IDF verfasste einen offenen Brief an Benjamin Netanjahu, in dem die israelische Regierung dazu aufgefordert wird, sich intensiver für die Freilassung Shalits einzusetzen. Auch einen weiteren Militär­einsatz im Gaza-Streifen schließen sie nach den misslungenen Operationen »Sommerregen« und »Herbstwolken« im Jahr 2006 nicht aus, selbst wenn die Hamas damals drohte, für die Sicherheit Shalits nicht garantieren zu können, falls palästinensische Städte bombardiert würden.
Im Gegensatz zur Regierung erscheint es für viele Unterstützerinnen und Unterstützer in der israelischen Gesellschaft völlig normal zu sein, im Austausch über 1 000 Mitglieder von Hamas, Fatah und Qassam-Brigaden aus den Gefängnissen zu entlassen. Auch wenn unter ihnen so prominente Führungskader sind wie der Fatah-Funktionär Marwan Barghuti, der wegen mehrfachen Mordes eine fünffache lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt und als Bindeglied zwischen den verfeindeten Gruppen Fatah und Hamas gilt.

Am Camp sind inzwischen einige junge Soldaten angekommen. Die Wehrdienstleistende Mirit erklärt, dass kein Preis für die Befreiung Shalits zu hoch sei. Schließlich »hat die israelische Regierung eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die sie in den Krieg schickt«, meint sie. Avishag stimmt ihr zu: »Keine Regierung sollte ihre Soldaten einfach aufgeben.« Die große Solidarität erklären sie sich damit, dass in der israelischen Gesellschaft nahezu jede Person Militärdienst geleistet habe und deshalb eine große Empathie für die Situation Gilads herrsche. Avishag muss allerdings einräumen, dass es auch andere Meinungen gibt: »Es kommen auch Leute vorbei, die für einen Austausch Shalits mit verurteilten Terroristen kein Verständnis haben, doch das sind nur wenige.« Sie hofft, dass die Regierung nun wieder aktiver wird. »Das sollte sie«, pflichtet Ilan bei, der gerade aus seinem Iglu-Zelt gekrochen kommt, »bevor Gilad nicht zurück ist, gehe ich hier jedenfalls nicht weg. Was sind schon 36 Tage gegen 1 521?«