Die Debatte um Netzneutralität

Alle Daten sind gleich

Wie neutral ist das Internet heute, und wie sähe eine Welt ohne Netzneutralität aus? Über eine Debatte, die in Deutschland kaum stattfindet.

Während in den USA schon seit mehreren Jahren kontrovers über Netzneutralität gestritten wird, ist das Thema in Deutschland jenseits der netzpolitischen Fachöffentlichkeit erst in diesem Jahr aufgetaucht. Doch jetzt wird auch hierzulande über den sperrigen Begriff diskutiert. Als Anfang August der Konzern Google und die US-amerikanische Telefongesellschaft Verizon ihren umstrittenen gemeinsamen Vorschlag zur Netzregulierung bekannt machten, gab es ein beachtliches Medienecho. Dieses wurde allerdings vom öffentlichen Getöse über die Einführung von Google Street View weitgehend übertönt. Vergangene Woche führte die Enquete-Kommission »Internet und digitale Gesellschaft« des Bundestags eine öffentliche Anhörung zum Thema Netzneutralität mit externen Sachverständigen durch. Dennoch fehlt es bislang in Deutschland an einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema. In der Netz-Community wird zwar inzwischen vielfältig diskutiert, so widmete sich auf der Bloggerkonferenz re:publica im April eine eigene »Subkonferenz« der Netzneutralität.
Die Resonanz ist jedoch, im Vergleich zu den USA, aber auch im Vergleich zum Widerstand gegen die Netzsperren im vergangenen Jahr, gering. So wurde die Petition »Internet – Neutrale Datenübermittlung im Internet«, deren Zeichnungsfrist am 2. Oktober ablief, von lediglich 5 338 Personen unterzeichnet. Eine ähnlich formulierte Petition, die im Frühjahr von Robin Meyer-Lucht (carta.info) initiiert wurde, kam gar nur auf 1 411 Unterzeichner. Und auch die im August von Björn Böhning (SPD) und Malte Spitz (Die Grünen) gestartete Initiative »Pro Netzneutralität« bewegt sich immer noch knapp unterhalb der Marke von 10 000 Unterstützern. Dagegen hat die amerikanische Plattform savetheinternet.com, eine Koalition aus NGO und Netz-Aktivisten, fast zwei Millionen Unterstützer für die Festschreibung der Netzneutralität durch den amerikanischen Kongress gewinnen können.

Hinter dem Schlagwort von der Netzneutralität verbirgt sich die fundamentale Frage, wer künftig die Kommunikationsinfrastruktur des Internet und ihre Ausgestaltung kontrolliert.
Doch wovon reden wir eigentlich, wenn wir von Netzneutralität reden? Netzneutralität ist ein technischer Begriff: Wer sich mit ihm beschäftigt, verliert sich schnell im Gestrüpp eines Vokabulars, bei dem höchstens Netzwerkadminis­tratoren leuchtende Augen kriegen: Deep Packet Inspection, Depeering, Prioritizing, Quality of Service, Overprovisioning, usw. Netzneutralität ist ein politischer Begriff: Die Netzneutralität sei Grundlage von Gleichberechtigung, Teilhabe und Meinungsfreiheit im Internet, behaupten ihre Verfechter. Nicht zuletzt ist Netzneutralität ein wirtschaftlicher Begriff: Es geht um Wettbewerb und »Innovationsfähigkeit«, um »Pricing-Modelle« und Vertragsfreiheit und darum, wer wofür zahlt. Die einen sagen, der freie Markt wird’s schon richten mit der Neutralität, die anderen sehen in einer gesetzlichen Verankerung die notwendige Voraussetzung für einen weiterhin fairen Wettbewerb.
Dass die Dinge so kompliziert sind, liegt in der Natur der Sache. Eingriffe in das Design der Netzwerkarchitektur sind niemals rein technischer Natur, sondern haben entscheidende Auswirkungen auf die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Organisation des Netzes. »Code is law«, brachte Lawrence Lessig diesen Sachverhalt auf den Punkt. Doch wie sieht der Code der Netzneutralität aus?
Netzneutralität ist zunächst einmal ein grundlegendes Design-Prinzip des Internet, das besagt: Alle Daten werden gleich behandelt, beim Transport der Daten wird nicht darauf geachtet, wer was an wen sendet, sondern jegliche Daten werden unterschiedslos vom Sender zu ihrem Empfänger geroutet. Auf der Ebene des Datenverkehrs, dem TCP/IP-Protokoll, ist das Netz dumm und blind, es schiebt nur Datenpakete hin und her. Was diese Daten bedeuten und wie sie weiterverarbeitet werden, entscheiden die Rechner und User an den vielen Endpunkten des Netzwerks. Deshalb wird dieses Prinzip auch »end-to-end« genannt. Ihm verdankt das Internet seinen rasanten Aufstieg und sein exponentielles Wachstum, denn es erlaubt jedem Rechner und jedem Netzwerk, sich an dieses Netzwerk von Netzwerken anzuschließen, solange sie für den Datenverkehr im Internet die Regeln des TCP/IP-Protokolls befolgen. Als dezentrales, dummes Netzwerk verlagert das Internet Innovation an die Ränder und ermöglicht mehr Menschen den Zugang. Jeder, vom einfachen User bis zu Großkonzernen wie Google oder Facebook, kann neue Dienste und Anwendungen entwickeln und bereitstellen, ohne dass es eine Bevorzugung der jeweiligen Daten bei der Durchleitung durch das Netz gäbe.

So weit die Theorie, die zwar immer noch weitgehend Realität ist, aber an vielen Ecken und Enden des Netzes bereits zerbröselt. Das Netz ist längst nicht mehr neutral im strengen Sinne. Insbesondere gilt dies für das mobile Internet. So wird beispielsweise der Internettelefondienst Skype von Mobilfunkanbietern wie T-Mobile geblockt, weil er eine billige Konkurrenz zum eigenen Angebot darstellt. Mit einem iPhone mit T-Mobile-Vertrag habe ich also nicht mehr einen neu­tralen, umfassenden Zugang zu allen über das Internet verfügbaren Diensten, sondern nur noch ein Internet ohne Skype.
Die Netzwerkbetreiber haben ein starkes Interesse daran, den Zugang zu kontrollieren und zu entscheiden, wie und welche Daten sie weiterleiten, denn so können sie ihre Investitionen in die Netze besser monetarisieren. Deshalb sind sie unter anderem auch bestrebt, an den Gewinnen von Google und anderen Content-Anbietern beteiligt zu werden. So fordert beispielsweise die Telekom, dass Konzerne wie Google oder Apple für die schnelle Durchleitung von besonders großen Datenmengen eine Gebühr zahlen sollten. Damit aber wäre das Ende des offenen, einheitlichen und diskriminierungsfreien Internet, in dem die User entscheiden, welche Angebote sie nutzen wollen, endgültig besiegelt.
Die Debatte wird auch deshalb so erbittert geführt, weil es im Kern tatsächlich um eine Alles-oder-Nichts-Entscheidung geht. Man kann den Begriff der Netzneutralität zwar enger oder weiter fassen, aber egal, wie die Definition letztlich ausfällt – man kann nicht ein bisschen Netzneutralität haben oder, wie Google und Verizon es tun, die Netzneutralität nur für das stationäre, kabelgebundene Internet fordern, während im mobilen Netz andere Regeln gelten sollen. Sicherlich sind Bandbreiten und Kapazitätsengpässe beim mobilen Internet relevanter als bei DSL und Kabelanschlüssen. Doch auch hier geht es um Zugang zum Internet. Und die Zukunft wird mobil sein. Deshalb ist die Ausnahme für das mobile Netz im Vorschlag von Google und Verizon auch ein berechtigter Anlass zur Sorge.

Ein mobiles Internet ohne Netzneutralität wäre, wie Jeff Jarvis formulierte, nur noch ein »Schminternet«. Johnny Häusler vom Blog »Spreeblick« malte in der Beilage zur diesjährigen re:publica plastisch die Parallelwelt eines solchen »Schminternet« aus, in der die Provider festlegen, welche Inhalte zu welchem Preis zu den Nutzern gelangen: »Das Basis-Paket ›Shop’n’Family‹ ließe uns beispielsweise für nur 19,90 Euro bis zu 1 000 E-Mails von bis zu vier Adressen senden (jede zusätzliche Adresse nur 2,99 Euro) und insgesamt 20 000 Webseiten der Kategorie ›Family & Friends‹ abrufen – wichtige Shoppingportale inklusive. Die Wissensdurstigen könnten das Paket ›Power Knowing‹ mit Wikipedia- und Suchmaschinen-Zugang hinzubuchen, bei Jugendlichen wäre der Tarif ›Play4Fun‹ eine beliebte Option. Wer eigene Inhalte im Web veröffentlichen wollte, müsste ›Share’n’Publish‹ erwerben, Geschäftsleute hingegen kämen an ›Business@home‹ kaum vorbei, mit dem für zusätzliche 29,90 Euro auch E-Mail-Adressen im Ausland erreichbar wären.«
Diese Welt hatten wir schon einmal, sie hieß AOL oder Compuserve. Diese geschlossenen Plattformen sind mit der permanenten Innovationsflut des offenen Netzes untergegangen, doch sollten wir uns nicht darauf verlassen, dass die gegenwärtigen Versuche der vertikalen Integration und der damit verbundenen Fragmentierung des Internet ebenso scheitern werden. So äußerte Tim Wu, der das Konzept der Netzneutralität wesentlich mitgeprägt hat, in einem kürzlich geführten Interview mit dem Blog »Endgadget« die Befürchtung, dass wir in die Ära des Fernsehens zurückkehren, bei der einige wenige Anbieter vor allem auf die Verbreitung kommerzieller Inhalte setzen. Laut Wu ist der gegenwärtig stattfindende Konzentrationsprozess im Markt der Provider und der großen Diensteanbieter kaum aufzuhalten. Seine leise Hoffnung ist, dass die Kommunikationskonzerne sich der Öffentlichkeit so weit verpflichtet sehen, dass sie ihre Netzwerke offen für jegliche Innovation und freie Rede halten. Denn das Internet ist, sowohl was die Seite der Datenleitungen als auch was die Seite der Anwendungen angeht, zwar vorwiegend privatwirtschaftlich organisiert, seine Aufgabe als universales Kommunikationsmedium ist aber längst eine öffentliche. Schon deshalb ist eine starke Verankerung des Prinzips der Netzneutralität dringend geboten.