Hauptsache Religion
Im Qualifikationsspiel zur Fußball-Europameisterschaft zwischen Deutschland und der Türkei am Freitag voriger Woche geschah in der 79. Minute etwas, das die derzeit laufende »Integrationsdebatte« gewissermaßen in komprimierter Form widerspiegelte: Mesut Özil, der 1988 in Gelsenkirchen geborene und groß gewordene Sohn türkischer Einwanderer, erzielte für die deutsche Nationalmannschaft das 2:0 und versagte sich anschließend jeglichen Jubel über sein entscheidendes Tor. Auf der Ehrentribüne freute sich die Bundeskanzlerin Angela Merkel, während sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan entsetzt abwandte. Der ZDF-Reporter Béla Réthy – Sohn ungarischer Eltern, geboren in Wien, aufgewachsen in São Paulo und in Deutschland lebend, seit er zwölf Jahre alt ist – presste hervor: »Ausgerechnet Özil!« Diejenigen unter den etwa 40 000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion, die es mit der Türkei hielten, pfiffen sich die Seele aus dem Leib, während die Deutschland-Fans erst den Torschützen besangen und dann in der Arena, die Adolf Hitler einst anlässlich der Olympischen Spiele 1936 erbauen ließ, zu Tausenden grölten: »Sieg!«
Was diese Ereignisse so symptomatisch für die gegenwärtige Diskussion über muslimische Zuwanderer und Allochthone macht, liegt auf der Hand: Von den Letztgenannten sind viele nur ein Spielball anderer. Sie leben unter Bedingungen, die von einem religiös-nationalistischen Autoritarismus im Herkunftsland beziehungsweise im Elternhaus auf der einen und einem überaus großen Anpassungsdruck sowie einer zwischen Feindseligkeit, Kulturrelativismus und Nützlichkeitserwägungen oszillierenden Haltung großer Teile der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite geprägt sind. Während Erdogan den in Deutschland lebenden Türken und Türkischstämmigen einschärft, Assimilation sei ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, und ihnen über Verbände wie die Ditib und Milli Görüs seine Lesart des Islam aufzwingen will, wird hierzulande unter »Integration« zumeist nichts anderes verstanden als die Beseitigung »aller sichtbaren Spuren der Herkunft« (Jungle World 37/10) sowie die Dienstbarmachung für Deutschland. Und wo türkische Eltern schon mal die von ihren Töchtern verursachte »Familienschande« per »Ehrenmord« sühnen lassen oder ihre Söhne mit nicht volljährigen Cousinen verheiraten, weil der Islam das so vorsehe, romantisieren nicht wenige Grüne und Linke die Muslime – oder wen sie dafür halten – als Träger einer fremden, autochthonen, quasi naturwüchsigen Kultur und weisen unterschiedslos jede Kritik an der »Religion des Friedens« und ihren Adepten als »islamophob« zurück – auch und gerade dann, wenn diese Kritik von Menschen stammt, die nicht mehr als Muslime ontologisiert werden möchten.
»Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland«, hatte Bundespräsident Christian Wulff (CDU) in einer Rede zum »Tag der deutschen Einheit« gesagt und damit eine weitere Runde in der »Integrationsdebatte« eröffnet. Während sich Grünen-Politiker wie Jürgen Trittin und Renate Künast umgehend zu seiner Verteidigung aufschwangen, bezog Wulff aus der Union reichlich Schelte. »Unsere Werteordnung, zu der auch die Religionsfreiheit gehört, müssen wir erhalten, und der Islam kann diese Werteordnung nicht bestimmen«, sagte beispielsweise der Unionsfraktionsvorsitzende Volker Kauder, der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer forderte ein Ende der Zuwanderung aus »anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern«. Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) will gar eine signifikante »Deutschenfeindlichkeit« unter Muslimen festgestellt haben, deren Bekämpfung man »nicht den Rechtspopulisten überlassen« dürfe.
Zahlreiche konservative Politiker und Zeitungskommentatoren beschworen zudem die »christlich-jüdische Tradition« und »Wertegrundlage«, als hätte es den christlichen Antjudaismus, antisemitische Pogrome und den Holocaust nie gegeben. Zudem scheinen sowohl der Bundespräsident als auch seine Verteidiger etwas vergessen zu haben, woran Henryk M. Broder in einem Kommentar für die Weltwoche erinnerte: »Der Islam gehört spätestens seit dem Tag zu Deutschland, an dem der Mufti von Jerusalem mit dem Führer 1941 in Berlin zusammentraf, um ihm seine Hilfe bei der Endlösung der Judenfrage anzubieten.«
Broder war es auch, der gemeinsam mit dem Journalisten Reinhard Mohr in einem offenen Brief an Wulff kritisierte, es werde in der Debatte um die Integration bisweilen der Eindruck erweckt, dass Deutschland »keine zivile, säkulare Republik freier Bürger« sei, »sondern die Summe seiner Religionsgemeinschaften, eine Art multikulturelle Glaubenskongregation, ein einziger fortwährender Kirchentag unter dem gemeinsamen Vorsitz von Margot Käßmann, Kardinal Meissner, Charlotte Knobloch und dem Zentralrat der Muslime«. In der Tat werden in der gegenwärtigen Diskussion auffällig selten die Aufklärung und der Humanismus zum Maßstab erhoben, und das offenbart ein grundsätzliches Dilemma: Hierzulande ist ein universalistisches Verständnis von Menschenrechten noch immer randständig, und eine Dialektik von Einheit und Differenz, wie sie in den USA selbstverständlich ist, existiert schlicht und ergreifend nicht.
Zwar wird offiziell inzwischen nicht mehr geleugnet, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, doch das deutsche Selbstverständnis ist nach wie vor stark geprägt von einer völkisch-kollektivistischen Sicht auf die Welt – sei es in der klassisch deutschnationalen, sei es in der kulturrelativistischen Variante. Und so verdächtigen die einen Mesut Özil, ein muslimischer Schläfer mit arglistigen Unterwanderungsabsichten zu sein, weil er vor Länderspielen die deutsche Hymne nicht mitsingt, während die anderen – wie etwa der Deutsche Fußballbund – glauben, es sei »unter dem politischen Aspekt der Integration fast ein historisches Dokument«, wenn der Spieler sich in der Kabine mit freiem Oberkörper beim Handschlag mit der Bundeskanzlerin ablichten lässt.
Diese Ontologisierung von Menschen, die nahezu ausnahmslos dem »islamischen Kulturkreis« zugerechnet werden, hat auch der deutsch-ägyptische Politologe Hamed Abdel-Samad kritisiert. Dadurch, dass Einwanderer aus der Türkei, Pakistan oder Marokko hierzulande in erster Linie als Muslime gesehen würden, dränge man sie »mehr und mehr in ihre Rolle«, was es islamischen Verbänden – die an genau dieser Festschreibung selbst ein Interesse haben – ermögliche, an Einfluss zu gewinnen, befand der Sohn eines Imams, der über sich selbst sagt, er sei »vom Glauben zum Wissen konvertiert«.
Es sollte aber auch nicht vergessen werden, dass die so oft beklagten »Parallelgesellschaften« nicht bloß das Ergebnis der Integrationsunwilligkeit von »Menschen mit Migrationshintergrund« sind, sondern nicht zuletzt aus der jahrzehntelangen Weigerung der postnazistischen Deutschen resultierten, dieses Land als Einwanderungsland zu verstehen und es als solches zu akzeptieren. Anders gesagt: Die Integrationsbereitschaft, die von Zuwanderern und in Deutschland geborenen Nichtdeutschen gefordert wird, muss selbstverständlich auch die Mehrheitsgesellschaft zeigen. Diese jedoch streitet sich lieber darüber, ob sie die vermeintlich Fremden eher als Bedrohung oder als Bereicherung begreifen soll – und ist sich deshalb in einem einig: Fremde sind und bleiben die Immigranten und Allochthonen.
Siehe auch Kommentar von Birgit Schmidt