Über Praktikanten und andere prekär Beschäftigte

Der Beste wird Praktikant

Derzeit verlassen die ersten Jahrgänge mit einem Bachelor-Abschluss die Universität. Damit steigt die Konkurrenz um Praktikumsplätze.

Mit zwei Koffern und einem überdimensionierten Traveller-Rucksack betritt die junge Frau das Zugabteil. Ein Mitreisender, der ihr beim Verstauen des Gepäcks behilflich ist, fragt: »Ihre Reise hat sich aber gelohnt, oder?« »Geht so«, antwortet sie und lächelt gequält. Seit fast zwei Jahren reist Nora als Praktikantin durch die Republik. Bei ihrer ersten Zwischenmiete gönnte sie sich noch einen Umzugswagen, mittlerweile zieht sie mit der Bahn um. Gerade ist die 27jährige Innenarchitektin auf dem Weg nach Hamburg, um dort ihr sechstes Praktikum zu beginnen. Als ihr der neue Arbeitgeber mitteilte, dass dieses Praktikum monatlich mit 1 000 Euro honoriert werde, habe sie sich wirklich gefreut, erzählt Nora. Die Praktika, die sie zuvor absolviert hatte, waren alle unentgeltlich gewesen. Nun ist sie dort angekommen, wo einige ihrer Freunde schon sind und andere vermutlich bald sein werden, in der Welt der Geringverdiener.

Vor fünf Jahren begann in Deutschland die Debatte um die »Generation Praktikum«. Das Etikett wurde einem gleichnamigen Artikel aus der Zeit entliehen, Matthias Stolz beschrieb dort die systematische Ausbeutung von Praktikanten. Mittlerweile gibt es in Deutschland einige Arbeitsmarktforscher, die im Hinblick auf junge Arbeitnehmer den Begriff »Generation Prekär« bevorzugen, weil er die unterschiedlichen Formen der »Erwerbstätigkeit zweiter Klasse« besser erfasst. In einigen europäischen Nachbarländern erscheinen die Bezeichnungen allerdings noch wesentlich präziser, ganz einfach, weil das prekäre Gehalt ausdrücklich erwähnt wird. In Italien und Spanien spricht man von den jungen »1 000-Euro-Verdienern«, in Griechenland gibt es den Begriff »Generation 700«, und in Portugal belaufen sich die Verdienstmöglichkeiten der prekär Beschäftigten durchschnittlich auf 500 Euro. Eine Studie der IG Metall, die Mitte Oktober veröffentlicht wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland derzeit mehr als die Hälfte derjenigen, die jünger als 24 Jahre alt sind, in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Und das unabhängig davon, ob sie eine berufliche oder akademische Ausbildung abgeschlossen haben. Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs sind das neun Prozent mehr als im Vorjahr. Bezeichnenderweise trägt diese Studie den Titel »Generation Prekär«.
Schon während der Zeit, in der hierzulande noch fast ausschließlich über die Situation von Praktikanten diskutiert wurde und der Begriff des Prekariats dem linken Sprachgebrauch vorbehalten war, wollte sich die rot-schwarze Bundesregierung nicht ernsthaft mit der »Generation Praktikum« beschäftigen. Sie bestritt einfach deren Existenz und stützte sich dabei auf die Ergebnisse der Studie »Generation Praktikum – Mythos oder Massenphänomen?«, die das Bundesbildungsministerium beim Hochschul-Informations-System in Auftrag gegeben hatte. Die Autoren der Studie, Kolja Briedis und Karl-Heinz Minks, fanden keinerlei überzeugende Daten, die das Gerede vom Dauerpraktikanten rechtfertigten. Überraschend war das nicht, schließlich werden in Deutschland keine Statistiken zur Beschäftigung von Praktikanten erhoben. Dementsprechend gelangten Briedis und Minks zu der Schlussfolgerung, dass das Praktikum eine wertvolle Chance sei, die den Einstieg in den Beruf wesentlich befördere.

Mit dieser Definition konnte sich nicht nur die Große Koalition anfreunden, auch die derzeitige schwarz-gelbe Bundesregierung scheint diese Sicht auf die Bedeutung von Praktika uneingeschränkt zu teilen. In der vergangenen Woche gab die Regierung auf eine Anfrage der Grünen zur Beschäftigung von Praktikanten in den Bundesministerien bekannt, dass neun von 14 Ministerien für die Arbeit von Praktikanten grundsätzlich keine Vergütung zahlen. Die Politik schreitet mit schlechtem Beispiel voran und zeigt dabei keinerlei Unbehagen. Diese Form von Verdrängung funktioniert ausgezeichnet, weil man dort weiterhin gern die euphemistische Version eines Praktikumsbegriffs pflegt, der nicht Arbeiten zum Nulltarif, sondern Qualifizierung suggeriert, was als Einstiegskarte für eine glanzvolle Karriere gilt. Dass nach der Zeit der Praktika auf viele junge Menschen eine langjährige Laufbahn im Niedriglohnsektor wartet, wird dabei lieber verschwiegen.
Als der frühere Arbeitminister Olaf Scholz (SPD) im Jahr 2008 einen eher halbherzigen Versuch unternahm, für Praktika eine verbindliche Entlohnung von mindestens 300 Euro einzuführen, scheiterte er am Widerstand von Bildungsministerin Annette Schavan (CDU). Ein Sprecher ihres Ministeriums sagte damals: »Eine solche Regel killt Praktika.«
Der Praktikantensektor floriert weiterhin, dafür sorgt schon die Bildungspolitik. In den vergangenen Wochen wurden die Auswirkungen des »Master-Desasters« erstmals offensichtlich. Nach dem Sommersemester 2010 verließ die Mehrheit der Studierenden die Universitäten mit einem Bachelor-Abschluss. Ihre Chancen auf einen Platz im Masterstudiengang sind gering, In Hamburg bewarben sich für dieses Wintersemester 1 140 Bachelor-Absolventen auf 170 vorhandene Studienplätze im BWL-Masterstudiengang. An anderen Universitäten, beispielsweise in Köln, München oder Frankfurt, war das Angebot an freien Plätzen ähnlich unverhältnismäßig. Die Bundesbildungsministerin hat immer wieder darauf verwiesen, dass Berufserfahrung nach dem Bachelor politisch erwünscht sei, das mangelnde Angebot an Masterstudienplätzen dürfte also den Interessen der Politik entsprechen. Die Pressesprecher der Universitäten gaben sich angesichts des Ansturms überrascht, man hatte jahrelang damit gerechnet, dass nach der Umsetzung der Bologna-Reform die Zahl der Bewerber für einen Master wesentlich geringer ausfallen würde.
Anscheinend ziehen die Absolventen eine Verlängerung des Studiums der Suche nach einem Arbeitsplatz vor. Mittlerweile beschreiben viele Bewerber den Praktikantenmarkt als Ort, an dem hart konkurriert wird. Arbeitgeber haben bisher wenig Vertrauen in die neuen Abschlüsse, Praktikumsplätze vergeben sie lieber an die Besitzer eines altehrwürdigen Diploms. Auch die Bachelor-Absolventen mit exzellenten Noten dürfen bestenfalls mit einem unbezahlten Praktikumsplatz rechnen. Von den Vorbehalten der Arbeitgeber glaubt auch Innenarchitektin Nora profitiert zu haben. Sie ist überzeugt, dass sie ohne ihr Diplomzeugnis und ihre zweijährige Arbeitserfahrung keine Chance auf eine Vergütung ihres Praktikums gehabt hätte. Die Situation dieser neuen akademischen Praktikantengeneration ist noch prekärer, als es vor vier Jahren der Fall war. Damals kehrten 25 Prozent der resignierten Praktikanten an die Universitäten zurück, um zu promovieren oder sich für einen neuen Studiengang einzuschreiben. Die Aussicht auf niedrigere Krankenkassenbeiträge und ein Semesterticket erschien ihnen nach den Erfahrungen, die sie als »Projektarbeiter«, »freie Dienstnehmer« und »neue Selbstständige« gemacht hatten, allzu verlockend. Dieser Fluchtweg bleibt den Absolventen des Jahres 2010 verschlossen.