Über die Schuldenkrise und die sozialen Proteste in Europa

Die Dynamik der Schuldenkrise

Über Irland wird der sogenannte Rettungs­schirm aufgespannt, Portugal könnte der nächste Kandidat sein. Mit der Krise des Euro und den Kürzungsmaßnahmen der von der Staatspleite bedrohten Regierungen entsteht auch die größte Streikwelle der vergangenen Jahrzehnte in Europa.

Die EU-Finanzminister einigten sich am späten Sonntagabend bei ihrem Sondertreffen in Brüssel darauf, dass Irland 50 Milliarden Euro zur Sanierung des Haushalts sowie 35 Milliarden Euro zur Stützung des Bankensystems erhalten soll. Die irische Regierung soll zu dem Rettungsplan 17,5 Milliarden Euro aus eigenen Mitteln beisteuern. Dazu sollen die Rücklagen für Renten eingesetzt werden. Die Zinsen für die Kredite werden zwischen 6 und 6,5 Prozent liegen und damit deutlich höher als im Fall Griechenlands (5,2 Prozent). Irische Staatsanleihen sind inzwischen auf knapp 9,3 Prozent Zinsen gestiegen. Und auch die vom irischen Staat vor der Pleite bewahrten Banken taumeln einer ungewissen Zukunft entgegen. Die Rating-Agentur Standard & Poor’s stufte am Freitag die Anglo Irish Bank auf die Junk-Bond-Stufe B herab. Ähnlich erging es der Bank of Ireland und der Allied Irish Bank, die auf die Noten BBB+ beziehungsweise BBB herabgestuft wurden.

Die Bankenpleiten und die Rezession haben die irische Bevölkerung hart getroffen. Die Zeiten des irischen Aufschwungs sind vorbei. »60 000 Menschen haben zwischen April 2009 und April 2010 Irland verlassen, ein Drittel davon sind Iren, zwei Drittel Nicht-Iren«, sagt Thomas Conefrey vom Economic and Social Research Institute in Dublin. Die Arbeitslosigkeit, die von fünf Prozent im Jahr 2007 auf mehr als 13 Prozent in diesem Jahr angestiegen ist, habe viele Iren vor die Wahl gestellt, ohne Aussicht auf einen Job im Land zu bleiben oder zu gehen. Allein im Bausektor wurden 150 000 Menschen arbeitslos. Von 90 000 Häusern, die allein 2007 gebaut wurden, stehen mittlerweile 33 000 leer. Am Samstag demons­trierten nach Angaben der Veranstalter 150 000 Menschen in Dublin gegen die Maßnahmen zur Haushaltssanierung, nach Angaben der Polizei waren es um die 50 000. Dazu aufgerufen hatte der Gewerkschaftsdachverband ICTU. Die Mehrwertsteuer soll von 21 auf 23 Prozent steigen, der Mindestlohn um einen Euro auf 7,65 Euro sinken. Knapp 25 000 Jobs im öffentlichen Dienst fallen weg, jährlich sollen Studiengebühren in Höhe von 2 000 Euro erhoben werden. Erstmals sollen die Iren für Trinkwasser zahlen. Der Vorsitzende der größten Einzelgewerkschaft Siptu, Jack O’Connor, bezeichnete die Sparpläne als »Kriegserklärung an die am schlechtesten bezahlten Arbeiter«. Zugleich wird die Regierungskoalition aus Fianna Fail und Grünen im Parlament immer instabiler, nachdem Fianna Fail bei einer Nachwahl einen vakant gewordenen Sitz an die oppositionelle Sinn Fein verloren hat. Die Regierung hat dadurch nur noch eine knappe Mehrheit von zwei Abgeordneten im Parlament. Premierminister Brian Cowen kündigte an, das Parlament aufzulösen und den Weg für vorgezogene Wahlen im Februar oder März freizumachen. Allerdings sei er erst zu Wahlen bereit, wenn die geplanten Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen vom Parlament verabschiedet sind. Gewerkschaften und die irische Opposition fordern jedoch, dass die Wahlen bereits vor der Umsetzung der Sparpolitik stattfinden sollen.

Auch in Portugal kam es zu vehementen Protesten gegen die Sparpolitik der Regierung. Der eintägige Generalstreik am 24. November war der größte seit Jahrzehnten und zugleich der erste Streik seit über 20 Jahren, zu dem die beiden größten Gewerkschaftsdachverbände, die den Sozialisten nahestehende UGT und die KP-nahe CGTP, gemeinsam aufgerufen hatten. Etwa 90 Prozent der Beschäftigten beteiligten sich daran. 12 000 Schulen blieben an diesem Tag geschlossen. Kein Flugzeug konnte starten oder landen und 85 Prozent der Züge fielen aus. Auch Teile der Polizei streikten, die Müllabfuhr ebenfalls, die meisten Geschäfte blieben geschlossen.
In mancher Hinsicht befindet sich Portugal in einer schlechteren Position als die anderen Länder mit Staatsschuldenkrisen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf beträgt gerade einmal 16 200 Euro, verglichen mit 30 570 Euro in Irland und 23 100 Euro in Griechenland. Die portugiesische Bevölkerung gehört damit zu den ärmsten Westeuropas. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erwartet, dass die portugiesische Wirtschaft dieses Jahr um voraussichtlich 1,5 Prozent wachsen, 2011 jedoch um 0,2 Prozent schrumpfen wird. Die Arbeitslosenquote liegt inzwischen bei elf Prozent. Nun wird im Rahmen des am Freitag verabschiedeten Sparpakets das Arbeitslosengeld gekürzt, die Erwerbslosen werden gezwungen, jeden Job anzunehmen, wenn sie nicht ihr Anrecht auf Unterstützung verlieren wollen. Vorgesehen ist zudem die Anhebung der Einkommenssteuern um einen bis 1,5 Prozentpunkte bis Ende 2011, lediglich Menschen mit einem Einkommen unter 475 Euro bleiben verschont. Unternehmen mit Gewinnen von mehr als zwei Millionen Euro sollen eine zusätzliche »Krisensteuer« von 2,5 Prozent zahlen. Die Mehrwertsteuer soll von 20 auf 21 Prozent steigen, im Gegenzug sollen die Bezüge der Minister und der Leitungen öffentlicher Unternehmen um fünf Prozent gesenkt werden. Außerdem sollen die Subventionen für Staatsunternehmen sinken.
Inzwischen wird an den Finanzmärkten auf eine drohende Staatspleite Portugals spekuliert. Die Anleihemärkte haben die Zinssätze, die Portugal bieten muss, auf einen historischen Höchststand getrieben. Der Zinssatz für zehnjährige portugiesische Anleihen ist inzwischen auf fast sieben Prozent gestiegen, und die steigenden Renditen auf Staatsanleihen könnten die portugiesische Regierung innerhalb kurzer Zeit in eine ähnliche Bedrängnis bringen wie die irische. Derzeit beläuft sich Portugals Staatsverschuldung auf 165 Milliarden Euro, Peanuts im Vergleich zu Deutschland, aber immerhin entspricht dieser Betrag beinahe dem gesamten portugiesischen BIP des Jahres 2009. Die beschlossenen Maßnahmen reduzieren die Staatsausgaben nur um zwölf Milliarden Euro. Zusätzlich ist die private Verschuldung in Portugal mit 239 Prozent weltweit eine der höchsten. Gläubiger sind überwiegend ausländische Banken.

Am Wochenende debattierten die EU-Finanzminister auch über eine eventuelle Hereinnahme Portugals und Spaniens in den Euro-Rettungsschirm. Ein wichtiges Ergebnis der Beratung war die Entwicklung eines Notfallplans für bankrotte Euro-Länder, der Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) genannt wird. Während die Position der deutschen Bundesregierung, private Gläubiger in die Schuldensanierung einzubeziehen, sich nicht durchsetzen konnte, wird dieser Weg in Zukunft dann beschritten werden, wenn kurzfristige Hilfen erfolglos bleiben. Dieser Fall tritt ein, wenn ein Staat von Europäischer Zen­tral­bank (EZB), EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds (IWF) und den Euro-Ländern als »insolvent« beurteilt wird, was einem klassischen Staatsbankrott recht nahe kommt. In diesem Fall müsste der betroffene Staat mit seinen privaten Gläubigern eine »Restrukturierung« aushandeln, um weiterhin Hilfen von EU und IWF zu erhalten.
Generell erhöht sich der Druck auf die Regierungen und die europäischen Institutionen, die Staatsfinanzen der Euroländer wieder in den Griff zu bekommen.
Die gegenwärtige Situation, in der vor allem Deutschland wieder ein gewisses Wirtschaftswachstum verzeichnet, ist nicht mehr als ein Atemholen, die nächste Phase der Krise dürfte von viel schlechteren Zuständen ausgehen und die Abwärtsspirale in ungeahnter Dynamik ausweiten. Es wird kaum möglich sein, die Verschuldung beträchtlich abzubauen, bis die nächste depressive Phase beginnt, die sich jetzt schon in den USA abzeichnet. Die Regierungen und das Kapital wollen die Krise mit Sozialabbau bekämpfen, mit Kürzungen der Renten, der Gesundheitsversorgung, der Ausgaben für Bildung, der Privatisierung von öffentlichen Gütern, der Senkung der Löhne und der Prekarisierung. Und sie haben objektiv kaum eine andere Wahl.

Die bisher angekündigten Kürzungsmaßnahmen haben bereits zu den größten Streikwellen seit Jahrzehnten geführt. Von Spanien und Portugal über Italien und vor allem Frankreich bis hin zu Irland erschüttern massenhafte soziale Proteste Europa. Deutschland, wo die Proteste gegen das Projekt Stuttgart 21 und den Castor-Transport nicht nur eine Wiederkehr totgeglaubter Bewegungen der achtziger Jahre darstellen, sondern auch in gewisser Hinsicht als Ersatzhandlung für die Lähmung der Gewerkschaften betrachtet werden können, gehört in dieser Hinsicht zu den Schlusslichtern des europäischen Protests.
Eine mehr als nur symbolische Bedeutung könnten die Streiks und Proteste allerdings nur erlangen, wenn sie den Rahmen ritualisierter und institutionalisierter Kampfformen überschreiten. Anzeichen davon waren in letzter Zeit etwa in Frankreich zu sehen, wo die Zuspitzung der Streiks und Proteste gegen die Rentenreform zum Teil gegen die eher zögerliche Haltung der Gewerkschaftsbürokratie erfolgte.
Zugleich fehlt derzeit noch jegliche ernstzunehmende europaweite Koordinierung der Kämpfe, die ein wesentlicher Schritt wäre, um die standortnationalistische und korporatistische Borniertheit der gewerkschaftlichen Krisen-Mitverwalter sowie auch durchaus eines Teils der Basis zu überwinden.