Mit Cocktails am Tor zur Anarchie

Bislang wurde Jugendlichen nachgesagt, dass sie unachtsam mit ihren Daten umgehen. Eine kürzlich erstellte Studie kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass die Teenies vorsichtiger werden. Aber auch zuvor wären wohl wenige auf die Idee gekommen, ihre abfälligen Bemerkungen über einen Lehrer 2,5 Millionen Menschen zur Verfügung zu stellen, sich dann zu beklagen, wenn der Pädagoge etwas davon erfährt, und zu behaupten, der Schulfriede sei in Gefahr, weil jemand ihr Geplapper enthüllt hat. Anders verhalten sich die Repräsentanten der US-Regierung, deren Geheimdokumente für eine Heerschar von Bürokraten und Soldaten zugänglich waren. Nun, da Wikileaks erneut eine umfangreiche Sammlung dieser Dokumente veröffentlicht hat, klicken sie eifrig »Gefällt mir nicht« an und fabulieren, die »nationale Sicherheit« und der Weltfriede seien in Gefahr.
Dass US-Politiker sich mit Ausreden behelfen, die einem bei einer Indiskretion im Internet ertappten Teenie peinlich wären, ist noch verständlich. Weniger klar ist, warum sich so viele Journalisten den Klagen über Wiki-leaks anschließen. »Wikileaks-Enthüllungen stoßen Tor zur Anarchie auf«, glaubt man bei der Welt, »Zu viel Wahrheit« sei auch nicht gut, befindet die Süddeutsche Zeitung. Eigentlich gibt es eine klare Arbeitsteilung. Politiker, Manager und Offiziere bemühen sich, Peinlichkeiten und Missetaten zu verbergen, und Journalisten tun ihr Bestes, sie zu enthüllen. Wenn eine Seite zu inkompetent ist, ihren Job zu erledigen, sollte das für die andere Seite kein Grund sein, ihrerseits die Waffen zu strecken. Überdies kann man davon ausgehen, dass selbst der Geheimdienst eines drittklassigen Diktators in der Lage ist, sich Informationen zu beschaffen, die so leicht zugänglich sind. Falls der iranische Präsident Mahmoud Ahmadinejad dies versäumt hat, dürfte er dennoch nicht überrascht darüber gewesen sein, dass seine »arabischen Brüder« ihn nicht wirklich lieb haben. Nun kann jeder Araber mit Internetzugang nachlesen, dass der saudische König Abdullah ein feiger Heuchler ist, der die Amerikaner die Dreckarbeit bei der Beendigung des iranischen Atomprogramms machen lassen will, Ahmadinejad aber nicht einmal öffentlich zu kritisieren wagt. Soll man darüber traurig sein?
»Wenn diese flächendeckende Indiskretion Schule machen sollte, wäre es das Ende staatlicher Handlungsfähigkeit«, glaubt der Welt-Kommentator Clemens Wergin. Das ist eine allzu optimistische Einschätzung. Der Wahrheit näher kommt der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer: »Was ich da über mich gelesen habe, ist das typische Berliner Cocktail-Geschwätz.« Enthüllt wurde von Wikileaks die Banalität einer Außenpolitik, die vornehmlich auf Cocktail-Geschwätz beruht und in 250 000 Geheimdokumenten nicht ein einziges echtes Geheimnis verstecken konnte.