Der »Runde Tisch« zum Thema Kindesmissbrauch

Offenbarungen am Runden Tisch

Schluss mit den »Parallelwelten«! Im Kampf gegen Kindesmissbrauch erscheint die Trennung von Staat, Öffentlichkeit und Privatsphäre als hinderlich.

Ohne dass es Aufsehen erregt hätte, ist die Kategorie des »Betroffenen« in den vergangenen Monaten zu einem eigenen Rechtstitel avanciert. Christine Bergmann (SPD), »unabhängige Beauftragte« der Bundesregierung zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, fordert die gleichberechtigte Vertretung von »Betroffenen« in allen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen als Präventivmaßnahme gegen künftige Missbrauchsfälle. An dem Mitte November veranstalteten »Runden Tisch« der Bundesregierung zum Thema Kindesmissbrauch nahmen neben Familienministerin Kristina Schröder (CSU), Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) acht »Betroffene« beziehungsweise Vertreter von »Betroffenen« teil.

Auch durch die von der Bundesregierung im Anschluss an das Gespräch am »Runden Tisch« veröffentlichten Stellungnahmen dieser Deputierten zieht sich der Begriff wie ein Leitmotiv. Gabriele Gawlich, die Vorsitzende der Beratungseinrichtung Mogis e.V. ist und den Gesprächen als »Betroffene« im »Kontext Familie« beiwohnte, fordert eine »betroffenszentrierte Forschung« zum Thema Kindesmissbrauch. Matthias Katsch, ehemaliger Schüler des katholischen Canisius-Kollegs und »Betroffener« im »Kontext Kirche«, bezeichnet es als Erfolg, dass sich »Hunderte von Männern mittleren Alters« massenhaft als »Opfer von Missbrauch und sexueller Gewalt« bekannt hätten, und Hedda Petersen, ebenfalls »Betroffene« im »Kontext Familie«, beschreibt die Entscheidung, »mich öffentlich zu meiner Betroffenheit als sexuell Missbrauchte« zu bekennen, sogar als einen »Schritt der Offenbarung«.
So wenig das subjektive Leid von Missbrauchsopfern bezweifelt werden kann, so fragwürdig erscheint die Beschwörung der »Offenbarung« und ihrer kathartischen Wirkung angesichts der Tatsache, dass der Ort des »Bekenntnisses« zum eigenen Opferstatus und die Appellationsinstanz für die geforderte »Wiedergutmachung« die verantwortlichen Bundesministerien sind, die den verdächtig gewordenen Beichtstuhl ersetzen. Das an den Staat adressierte Bekenntnis zum eigenen Opferstatus hat für die »Betroffenen« nicht einfach die Funktion, Gerechtigkeit herzustellen, sondern erhebt sie dem eigenen Empfinden nach allererst zu ordentlichen Bürgern.
»Wir sind keine Randgruppe, sondern Teil der Gesellschaft«, proklamiert etwa Gabriele Gawlich, als wären die Opfer sexuellen Missbrauchs vergleichbar mit Homosexuellen oder Migranten, die sich fundamentale Bürgerrechte über Jahrzehnte hinweg erkämpfen mussten. Maren Ruden vom Schreibprojekt »Bittere Tränen« der Zeitschrift Emma lobt Christine Bergmann und die beteiligten Ministerinnen dafür, das »Gefühl« vermittelt zu haben, dass »die Betroffenen« nicht nur »berühren, sondern auch etwas bewegen«. Unisono wird gepriesen, dass die Gespräche nicht von »Nüchternheit«, sondern von emotionaler Anteilnahme geprägt gewesen seien. Erst in Tuchfühlung mit den Staatsagenturen erlebt das Individuum seine rituelle Transfusion zum vollwertigen Menschen.

Auffällig bei der Diskussion um den Missbrauch sind die rhetorischen Anklänge an die »Bewältigung« der NS-Vergangenheit. Die von der Bundesregierung lancierte Medienkampagne gegen den Missbrauch mit dem Titel »Sprechen hilft« wirbt mit dem Slogan: »Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter.« Die Vertreter der »Betroffenen« beklagen einhellig, dass die »Taten der Vergangenheit« jahrelang »unter den Teppich gekehrt« worden seien. Zu den Forderungen, die Susanne Schulz, »Betroffene« im »Kontext DDR-Heim«, im Anschluss an die Gespräche erhoben hat, zählen die »juristische und historische Aufarbeitung der Heimerziehung« sowie ein »Schadensausgleich, der den Verursacher nicht vollends aus der Verantwortung entlässt«.
In diesen Zusammenhang gehört auch der alle Stellungnahmen prägende Affekt gegen das formale Recht, etwa die Empörung darüber, dass die meisten bekannt gewordenen Fälle – insgesamt fast 90 Prozent – bereits verjährt seien, was meist schlicht daran liegt, dass sie erst heute, lange nach ihrer Verjährungsfrist, angezeigt worden sind. Überdies wird regelmäßig beklagt, dass nach einer Missbrauchsbehauptung zunächst das Opfer, nicht der mutmaßliche Täter psychologisch begutachtet werde. Stets schwingt dabei die Unterstellung mit, Missbrauch sei ein Delikt, das sich den Maßstäben des bürgerlichen Rechts entziehe. Es soll weder verjähren dürfen noch bewiesen werden müssen, weil der Täter schon vor gerichtlicher Feststellung seiner Schuld als schuldig gilt. Das Lob der mangelnden »Nüchternheit« der Staatsvertreter ist insofern konsequent.
Die Selbstbeschreibungen der »Betroffenen« hingegen sind getragen von einer Rhetorik des Bekenntnisses, die an die Praktik des Outings erinnert. So beschreibt Hedda Petersen das »Bekenntnis« zu ihrer Missbrauchsgeschichte als einen »Schritt, der mich so unglaublich viel Kraft gekostet hat, aber so unglaublich gut tat«, und Matthias Katsch sekundiert: »Am Anfang standen ein paar Freunde, die den Mut hatten anzufangen. Opfer anderer Institutionen wurden dadurch ermutigt, ebenfalls ihr Schweigen zu brechen.« Die Fetischisierung des Bekenntnisses ist dabei umso fragwürdiger, als sie subjektiv ernst gemeint ist. Während der Akt des Outings, den sie evoziert, das öffentliche Bekenntnis zu einer Identität meint, die das Individuum als Ausdruck seiner Autonomie bejaht, zielt das Bekenntnis zu einer Vergangenheit als Missbrauchsopfer auf einen Teil der eigenen Identität, der um des Anspruchs individueller Autonomie willen gerade bearbeitet und überwunden werden müsste. Wird aus diesem negativen Bekenntnis ein positives, gerinnt das Opfersein zum identitären Fetisch, der unter Absehung von der konkreten Rechtslage zum Losschlagen gegen vermeintliche Täter aller Art legitimiert. Gerade als Garant der Willkür im Namen von »Betroffenenrechten«, nicht als Schutz des Individuums gegen jene, wird der Staat affirmiert.

Während der Pressekonferenz nach dem Runden Tisch Ende November forderte der Vater eines missbrauchten Kindes stellvertretend für andere »Betroffene«: »Wir müssen daran arbeiten, dass diese Parallelwelten – Kirchen, Einrichtungen, Heime, Schulen, Institutionen, Vereine –, in denen der Missbrauch allzu oft geschieht, keine eigenen Spielregeln mehr beanspruchen können.« Matthias Katsch, für den der Missbrauch »katholisch schmeckt«, verlangt sogar, »keine abgeschlossenen Strukturen mehr zu dulden, in denen Kinder und Jugendliche missbraucht werden können, weil keine Außenstehenden hineinschauen können«. Solche »abgeschlossenen Strukturen«, in die »keine Außenstehenden hineinschauen«, bestehen aber nicht nur in Kirchen und Internaten, sondern – als vom bürgerlichen Recht garantierte Privatsphäre jedes Einzelnen – auch in der bürgerlichen Familie selbst. Wer sie im Namen totaler Transparenz liquidieren will, verlangt nolens volens die Abschaffung der Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre im Namen einer unmittelbaren Einheit von Individuum und Staat, die selbst Intimität nur als Wurmfortsatz des Souveräns kennt. Die »Prävention« möglicher »Missbrauchsfälle« würde so mit dem Untergang individueller Freiheit bezahlt werden.