Die Proteste gegen das »Sparpaket« in Berlin 

Symbolisch scheitern

Das »Sparpaket« ist endgültig beschlossene Sache, der Protest gegen die Maßnahmen der Regierung hingegen vollkommen erfolglos geblieben. Nun beginnt das große Grübeln über die Gründe.

Eine Sorge beschäftigt die »Linke«: »Merkel und Co. spalten das Land«, ist zurzeit auf Flyern und Plakaten der Partei zu lesen. Die Beunruhigung ist allerdings unnötig. Die deutsche Bevölkerung lässt sich nicht spalten, auch nicht anlässlich der endgültigen Verabschiedung des größten Sparprogramms in der Geschichte der Bundesrepublik: Die Bürger blieben dem Protest gegen das sogenannte Sparpaket in der vergangenen Woche annähernd geschlossen fern.
So fanden sich zu einer angekündigten Belagerung des Bundestags am Freitag voriger Woche (Jungle World 47/10) nur kläglich wenige Teilnehmer ein. Der Veranstalter der Demonstration, das Berliner Bündnis »Wir zahlen nicht für eure Krise«, hatte ohnehin nur geringe Erwartungen geäußert. Doch statt der angekündigten 8 000 bis 10 000 Menschen versammelten sich nur etwa 4 000 Demonstranten vor dem Brandenburger Tor. Die überschaubare Menge wurde in einem Polizeispalier dort entlang geleitet, wo sie außer drei Böllerexplosionen und kleinen Rangeleien mit Beamten in Kampfmontur nichts anrichten und nur wenig Aufsehen erregen konnte. Das angekündigte Eindringen in die Bannmeile unterblieb, am Ende reckten die Demonstranten aus einer Entfernung von zwei Kilometern als Zeichen des »symbolischen Protests« rote Karten in Richtung des Bundestags, wo die Abgeordneten gerade mit 323 zu 253 Stimmen für den Haushalt der Bundesregierung stimmten, der besser als das »Sparpaket« bekannt ist.

Die staatlichen Ausgaben werden in den kommenden vier Jahren also um 80 Milliarden Euro verringert, sparen müssen zu einem großen Teil diejenigen, die es ohnehin alles andere als dicke haben. Im Anschluss an die Verabschiedung im Bundestag zeigte der Bundesrat, dass er zügig arbeiten kann, und stimmte dem Bundeshaushalt noch am selben Tag zu. Nun ist Gesetz, worüber bislang viel berichtet wurde: Wer Arbeitslosengeld II bezieht, dem werden zukünftig das Elterngeld und die Rentenbeiträge gestrichen, wer Wohngeld erhält, muss auf den Heizkostenzuschuss verzichten. Beim Übergang vom ALG I zum ALG II werden keine befristeten Zuschläge mehr gezahlt. Der unmittelbaren staatlichen Verfügungsgewalt zu entkommen, wird für Arbeitslose in Zukunft noch schwieriger: Da auch die Bundesagentur für Arbeit dazu verpflichtet ist, etliche Milliarden einzusparen, dürfte die Vermittlungsquote für Langzeitarbeitslose nicht unbedingt steigen. Die äußerst einfallsreiche Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) tut bei der Hartz-IV-Reform zusätzlich ihr Bestes, um mit der Zuteilung von Gutscheinen anstelle von Bargeld den Ausschluss der vom Markt überflüssig Gemachten von den bürgerlichen Verkehrsformen voranzutreiben (Jungle World 42/10).
Diese politischen Entscheidungen sind in der Tat skandalös. Öffentlich Unmut zu bekunden, war jedoch zumindest am vergangenen Freitag nicht erwünscht. Die Behörden gaben sich alle Mühe, den angekündigten Protest zu unterbinden. Dieser enthielt zwar auch den Aufruf zu »Aktionen zivilen Ungehorsams«, die sich aber nach Angaben der Veranstalter auf ein Eindringen in die Bannmeile und dort auf das symbolische Zeigen von roten Karten beschränken sollten.
Die bereits angemeldete Demonstration wurde mit recht kuriosen Begründungen verboten: Die Polizei sei wegen des Staatsbesuchs von Wladimir Putin überlastet, die Demonstranten begäben sich wegen des angekündigten Anschlags von al-Qaida in zu große Gefahr, selbst um die Unversehrtheit der Wiese vor dem Reichstag sorgten sich die zuständigen Stellen nach Angaben des Demonstrationsbündnisses. Einen anderen Grund für das Verbot gab der Berliner Innensenator Ehrhart Körting (SPD) an: Von den beteiligten Gruppen ALB und Arab seien Straftaten zu erwarten. Ein Gericht hob das Verbot schließlich wieder auf, ALB und Arab erfüllten Körtings Erwartungen nicht und überhaupt hätte sich der Innensenator die Aufregung angesichts der bescheidenen Ausmaße der Demonstration sparen können.
Das Bündnis »Wir zahlen nicht für eure Krise« tut dennoch das, was sich für Veranstalter gehört: In einer Pressemitteilung wertet es »die Teilnehmerzahl als Erfolg«. Die Einschätzung eines beteiligten Demonstranten ist jedoch realistischer: »Das ist ein Desaster.« Für dieses dürfte die Taktik der Versammlungsbehörde und der Polizei nicht maßgeblich verantwortlich sein. War das Wetter schuld, wie der Redner Gregor Gysi (»Linke«) nahe legte? Eher nicht. Einen Tag nach der Demonstration versammelten sich an derselben Stelle weitaus mehr Menschen: um Deutschland-Fähnchen zu schwenken und einer Ehrenrunde des Formel-1-Weltmeisters Sebastian Vettel beizuwohnen, nahmen mehr als 80 000 Menschen auch eisige Temperaturen in Kauf.

Dass die Krisenproteste gescheitert sind, wissen selbstverständlich auch die Beteiligten. Der missglückte Versuch, den Bundestag zu belagern, passt zum bisherigen Verlauf dessen, was man kaum als Widerstand gegen die deutsche Krisenbewältigung bezeichnen kann. Ende Oktober und Anfang November beispielsweise galt das öffentliche Interesse eher dem Castor-Transport als den »Aktionswochen gegen das Sparpaket« des DGB. Eine ideologisch ohnehin äußerst fragwürdige, für Mitte Oktober geplante »Bankenblockade« in Frankfurt am Main wurde wegen befürchteter mangelnder Beteiligung vollständig abgesagt. Und was vorausgegangene Proteste angeht, muss man wohl ehrlich fragen: Kann sich überhaupt noch jemand erinnern? Nun beginnt das große Grübeln über die Gründe des Scheiterns. Auf einer zweitägigen »Aktionskonferenz«, die im Anschluss an die Demonstration ebenfalls in Berlin stattfand, wurde neben einer allgemeinen Ratlosigkeit ein recht bescheidenes Programm für die kommenden Monate formuliert: Die »selbstkritische Analyse« steht an.
Über die Rolle der Gewerkschaften zu reden, wäre dabei sicher dienlich. Ein Teil ihrer Mitglieder möchte anscheinend von der Krise längst nichts mehr hören, wie ein Gewerkschafter auf der Konferenz zu berichten wusste: Der Aufschwung komme tatsächlich »bei den Menschen in den Betrieben an«. Das hat selbstverständlich triftige Gründe. Vor allem die IG Metall kam zum Schutz der Arbeitsplätze ihrer Klientel, aber auch zur Verteidigung des »Standorts« den Unternehmern mit dem Versprechen entgegen, auf Lohnkämpfe zu verzichten. Von der Politik wurde die Gewerkschaft für ihr loyales Verhalten mit der Kurzarbeitsregelung, die Unternehmer beispielsweise mit der Abwrackprämie belohnt. So kamen die von der IG Metall vertretenen Stammbelegschaften bisher einigermaßen glimpflich davon, anders als etwa die Leiharbeiter. Warum sollten festangestellte Facharbeiter also für prekär Beschäftigte oder gar Hartz-IV-Empfänger auf die Straße gehen, noch dazu wenn ihre Gewerkschaft sie nicht allzu sehr dazu ermuntert?
Ähnliches gilt für eine weitere Gesellschaftsschicht, auf deren Unterstützung das Krisenbündnis vergeblich gehofft hat. »Castor schottern – Atomausstieg!«, »Nein zu Stuttgart 21« – diese Solidaritätserklärungen sind auf der Seite »Sparpaket stoppen« in der Form von Links zu sehen. Reisebusse voller Demonstranten aus Stuttgart oder dem Wendland trafen am vergangenen Freitag dennoch nicht in Berlin ein. Verwunderlich ist das nicht. Das Göttinger Institut für Demokratieforschung hat kürzlich untersucht, wer in Stuttgart für den Kopfbahnhof und den Juchtenkäfer demonstriert: die »Generation Joschka«, mehrheitlich gut situierte Menschen fortgeschrittenen Alters, die den Grünen zugetan sind. Im Wendland ist dieses Milieu ebenfalls anzutreffen, nach dessen Vorstellungen das Wirtschaften vor allem »ökologisch« und »nachhaltig« sein und der kapitalistische Betrieb dementsprechend auf Vordermann gebracht werden soll. Sozialen Protesten bleibt es jedoch fern.

Dass sich das Krisenbündnis angesichts solcher gesellschaftlicher Bedingungen in seinen Texten einer »Mehrheit der Bevölkerung« als Lautsprecher angeboten hat, ist deshalb nicht nur wegen seiner Marginalität einigermaßen abstrus. Die beschlossenen Sparmaßnahmen betreffen zwar die Mehrheit der Bevölkerung, ein Facharbeiter bei Bosch in Salzgitter oder eine Gymnasiallehrerin aus Stuttgart-Degerloch wird finanzielle Einbußen jedoch weitaus leichter verschmerzen können als ein Fahrradkurier mit einem Hire-and-fire-Arbeitsverhältnis oder eine Hartz-IV-Empfängerin.
Zudem wurde die ideologische Kampagne, die den materiellen Angriff auf die Armen begleitete, nicht unbedingt ablehnend aufgenommen. Mögen größere Zeitungen und Magazine etwa Guido Westerwelles Rede von der »spätrömischen Dekadenz« oder Thilo Sarrazins Ausführungen über die in der DNA von Hartz-IV-Empfängern zu findende Anlage zur Faulheit unappetitlich gefunden haben – wer die Leserbriefseiten diverser Lokalzeitungen und die Bestellerliste der Sachbücher verfolgt hat, weiß, dass die Verachtung für die Armen von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung geteilt wird. Am »Klassenkampf von oben«, der sich gegen die für jegliche Form der Drangsalierung freigegebenen Abgehängten richtet, beteiligen sich eben nicht nur die »oberen Zehntausend«, wie Redner auf der Demons­tration am Bundestag nahelegten. Mit einer protestierenden Mehrheit ist da auch in der Zukunft nicht zu rechnen.