Die Debatte um den chinesischen Friedensnobelpreisträger

Der Unbeliebte

In dieser Woche wird in Oslo der Friedensnobelpreis an Liu Xiaobo verliehen, der in China eine Haftstrafe wegen angeblicher »Untergrabung der Staatsmacht« verbüßt. Während die chinesische Regierung die Verleihung des Preises als westliche Verschwörung darstellt, hat unter chinesischen linken Intellektuellen eine Debatte um den neoliberalen Charakter der von Liu mitinitiierten Bürgerrechtsplattform »Charta 08« begonnen.

In der westlichen und chinesischen Öffentlichkeit war Liu Xiaobo vor der Verleihung des Friedens­nobelpreises nur wenig bekannt. Er wurde 1955 in Changchun im Nordosten Chinas als Sohn einer Intellektuellenfamilie geboren und arbeitete im Rahmen von Maos Landverschickungskampag­ne während der sogenannten Kulturrevolution zunächst in einer Volkskommune in der Inneren Mongolei und dann in einer Baukompanie. Nach der Wiedereinführung der Aufnahmeprüfung an den Hochschulen nahm er 1977 ein Studium der Literatur auf. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erregte Liu vor allem mit seinen Essays Aufmerksamkeit. Er kritisierte den Untertanengeist der Chinesen, den er als Altlast der konfuzianischen Traditionen und des Maoismus ansah.

Wie nicht wenige Studenten der achtziger Jahre sah er in einer vollständigen Verwestlichung Chinas die Lösung der Probleme. Schon zu diesem Zeitpunkt betrachtete er die Privatisierung der Wirtschaft als Grundlage für die Freiheit des Menschen. Mit seinen Thesen machte sich Liu bei Linken, Nationalisten und Kulturkonservativen gleichermaßen unbeliebt. Nach seinem Doktorat an der Beijing Normal University 1988 und einem kurzen Forschungsaufenthalt in den USA kehrte er im Mai 1989 nach Peking zurück, um an den Studentenprotesten teilzunehmen. Seine Beteiligung am Hungerstreik auf dem Platz des Himmlischen Friedens brachte ihm nach der militärischen Niederschlagung der Bewegung zwei Jahre Haft ein. Wegen seiner Teilnahme an der Dissidenten-Bewegung wurde Liu von 1996 bis 1999 in ein Arbeitslager eingewiesen. Er ließ sich allerdings nicht von seinem politischen Kurs abbringen und wurde als Mitverfasser des Aufrufs »Charta 08« im Dezember 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt. Die »Charta 08« wurde in Anlehnung an die tschechoslowakische »Charta 77« verfasst und von über 7 200 Bürgern in China unterschrieben. Neben einer neuen demokratischen Verfassung und Gewaltenteilung werden darin die Fortsetzung der Privatisierung der Wirtschaft sowie eine Aufhebung des Staats- und Kollektiveigentums an Grund und Boden gefordert. Während viele chinesische Intellektuelle nach den katastrophalen Folgen der »Schock-Therapie« im Russland der neunziger Jahre sich von der Idee einer Einführung einer bürgerlichen Gesellschaft nach westlichem Vorbild in absehbarer Zeit verabschiedeten, scheint Liu an den liberalen Idealen der achtziger Jahre festzuhalten.

Nach anfänglichem Schweigen zum Nobelpreisträger fährt die chinesische Regierung mittlerweile ihren Propagandaapparat auf. Zeitungsartikel versuchen Liu als »egoistischen« und »geldgierigen« Menschen darzustellen, der sich von ausländischen Geldgebern aushalten lasse und ein unbelehrbarer Feind Chinas sei. Genüsslich wird immer wieder aus einem Interview Lius mit der Hongkonger Zeitung Jiefang Yuebao von 1988 zitiert, in dem er sagte, für China seien selbst 300 Jahre Kolonialisierung durch den Westen nicht genug, um das Land grundlegend zu verändern.
Dass Liu Xiaobos Organisationen von ausländischen Geldgebern unterstützt werden, ist kein Geheimnis. Sein Magazin Demokratisches China sowie das chinesische Pen-Zentrum, dessen Vorsitzender er von 2003 bis 2007 war, erhält Geld von der US-amerikanischen Organisation »National Endowment for Democracy« (NED). Diese Organisation verteilt seit den achtziger Jahren jährlich viele Millionen Dollar weltweit und wird hauptsächlich vom US-Kongress finanziert. Auf ihrer Website ist zu lesen, dass neben dem chinesischen Pen-Zentrum viele exiltibetische Gruppen, der Weltkongress der Uiguren sowie die Opposition gegen Hugo Chávez in Venezuela und exilkubanische Organisationen finanziert werden. Der chinesischen Staatspropaganda fällt es nicht schwer, daraus eine Verschwörung zur Destabilisierung des Landes zu konstruieren. Auch wenn keine Verbindungen zum Ausland bestehen, werden Kritiker in China schnell des Landesverrats beschuldigt. Zudem stellt sich die Frage, wie Oppositionelle in einem autoritären System ohne Unterstützung überhaupt überleben können. Ein kritisches Verhältnis zur US-Regierung scheint Liu nicht zu haben. Mehrfach rief er in Artikeln dazu auf, sich mit dem »Krieg gegen den Terror« zu solidarisieren. Bei den Regierenden Chinas werden dabei Erinnerungen an 1989 wach, als es in Folge von Unruhen in Lhasa zu einer 13-monatigen Verhängung des Kriegsrechts kam, als im Dezember dem 14. Dalai Lama der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Die Niederhaltung der Dissidenten um die »Charta 08« stellt, im Gegensatz zu tibetischen Unruhe bisher für den Repressionsapparat keine ernsthafte Herausforderung dar.

Neben der Propaganda der chinesischen Regierung wird zunehmend auch von linker Seite Kritik an Liu laut. In der Hongkonger Zeitung South China Morning Post merkten zwei linke Wissenschaftler, Yan Hairong und Barry Sautman, an, dass die große Mehrheit der einfachen Leute in China die Forderungen der »Charta 08« nach vollständiger Privatisierung nicht unterstützen würden, selbst wenn sie die Chance hätten, sie zu lesen. Diese Wirtschaftspolitik würde dafür sorgen, dass die sozialen Ungleichheiten wachsen. Die chinesische Regierung solle lieber über die Ziele der Charta aufklären, anstatt Liu einzusperren. Au Loong Yu von der Organisation Globalization Monitor argumentiert hingegen, dass gerade die Gewährung von politischen Rechten den Arbeitern bei ihren Streiks helfen würde, und kritisiert die »Neue Linke« in China, die Liu als einen »Agenten des US-Imperialismus« verunglimpft. Yu merkt allerdings kritisch an, dass die Zulassung von Gewerkschaften und Bauernverbänden nicht implizit gefordert werde und eine Entschädigung der Enteigneten der Kampagnen nach 1949 die chinesische Revolution als solche in Frage stellen würde.
In der Volksrepublik ist eine offene Debatte gefährlich. Einer der bekanntesten »öffentlichen Intellektuellen« des Landes, der linksliberale Professor Qin Hui von der Tsinghua-Universität, hat sich im Internet trotzdem geäußert. Er argumentiert, dass der »Charta 08« wahrscheinlich kein Erfolg beschieden sein werde. Im Unterschied zur Tschechoslowakei im Jahr 1977 befinde sich China in keiner wirtschaftlichen Stagnation, und diejenigen, die von Privatisierungen und Korruption profitieren, hätten an einer Demokratisierung kein Interesse. Er bewundere Liu Xiaobos Mut, habe die »Charta 08« aber nicht unterschrieben, weil der Aufbau eines Wohlfahrtsstaats nicht gefordert werde.
Die Vergabe des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo ist ein Signal gegen den Zeitgeist. Während viele westliche Politiker und Wissenschaftler aus dem Staunen über die scheinbar sagenhaften Erfolge des »chinesischen Modells« nicht mehr herauskommen, ist ein Chinese bereit, für die Ideale des Liberalismus ins Gefängnis zu gegen.