Tom Koenigs im Gespräch über die Praxis der Grenzschutzagentur Frontex

»Grenzen sind Grenzen«

Seitdem die EU-Grenzschutzagentur Frontex die Seewege über das Mittelmeer weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht hat, gilt der Landweg über die türkisch-griechische Grenze als wichtigste verbleibende Immigrationsroute in die EU. Seit November bemüht sich Frontex, auch diese zu schließen. Bis zu 205 Grenzbeamte aus verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten sind in die Region am Grenzfluss Evros abgeordnet – die Zahlen schwanken. Davon sollen bis zu 40 Beamte aus Deutschland kommen. Die Bundesrepublik stellt außerdem sieben Patrouillenfahrzeuge. Einen ersten Eindruck vom Frontex-Einsatz in Griechenland hat sich der Vorsitzende des Bundestags-Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Tom Koenigs (Grüne), bei einem Besuch verschafft. Begleitet wurde er von zwei Vertretern von Pro Asyl.

Wie viele deutsche Polizisten haben Sie an der griechisch-türkischen Grenze angetroffen?
Vielleicht zehn oder zwölf. Ich hatte mit Frontex keinen offiziellen Termin, weshalb ich nur mit einzelnen Beamten sprechen konnte, die ich zufällig getroffen habe.
Was tun die Deutschen dort?
Die Deutschen machen da nichts anderes als die anderen Teilnehmer des Frontex-Kommandos auch: Es geht darum, Leute am illegalen Überqueren der Grenze zu hindern – hauptsächlich mit technischen Mitteln, soweit ich das sehe. Wenn die Beamten jemanden erspähen, der sich von der türkischen Seite aus der Grenze nähert, bleiben sie stehen und machen zum Beispiel das Blaulicht an.
Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und Human Rights Watch berichten auch von deutlich gröberem Vorgehen.
Dazu weiß ich aus erster Hand nichts.
Was geschieht mit jenen Flüchtlingen, die es an Frontex vorbei über die griechische Grenze schaffen?
Von griechischen Offiziellen habe ich erfahren, dass die Frontex-Beamten anschließend an den sogenannten Screenings mitarbeiten: Das ist die bürokratische Erfassung der Aufgegriffenen, eine höchst problematische Praxis. Dabei werden Flüchtlinge in Griechenland in Empfang genommen, ohne dass man sich etwa die Zeit nähme, sie rechtlich aufzuklären, sozial zu beraten oder ihnen Rechtsbeistand zu gewähren. Das Ziel dieser Screenings ist es nur, das Herkunftsland der Flüchtlinge zu ermitteln, um sie möglichst bald wieder abschieben zu können.
Das Herkunftsland ermitteln – wie geht das?
Schlecht. Meist sind nur wenige Minuten Gespräch pro Flüchtling vorgesehen. Hierüber haben sich auch die deutschen Frontex-Beamten beklagt, mit denen ich gesprochen habe – die rechtsstaatlichen Defizite liegen ja auf der Hand. Ich konnte zum Beispiel mit einem Flüchtling sprechen, der zusammen mit zwölf anderen Flücht­lingen zum Iraner gestempelt worden war, aber ganz offensichtlich Afghane war. Ich war lange für die Uno in Afghanistan tätig und konnte mich länger mit ihm unterhalten. Die Einordnung als Iraner ist für diesen Mann natürlich folgenschwer: Die Türkei hat Griechenland zugesichert, Flüchtlinge aus ihren Nachbarstaaten zurück­zunehmen. Iraner können also sehr leicht in die Türkei abgeschoben werden. Nicht aber Afghanen.
Gil Arias Fernández, der Vize-Direktor von Frontex, hat als Erfolg des neuen Einsatzes in Griechenland bereits eine Reduzierung der Anzahl ankommender Flüchtlinge um 44 Prozent vermeldet. Wie nahe ist Frontex Ihrer Einschätzung nach dem selbstgesteckten Ziel, die griechische Route in die EU zu schließen?
Das ist schwer zu sagen. Es ist auffällig, dass sich der Flüchtlingsstrom tatsächlich nach Griechenland verlagert hat, seitdem Italien seine Küsten mit libyscher Hilfe abschottet. Viele der griechischen Beamten, mit denen ich gesprochen habe, hegen nun die Hoffnung, dass das auch in Griechenland ein vorübergehendes Phänomen bleibt und sich der Flüchtlingsstrom infolge des Frontex-Einsatzes bald ins nächste Land verlagert, zum Beispiel nach Bulgarien.
Deutsche Frontex-Beamte, die Flüchtlingen – wie Sie sagen – beim Screening willkürlich gewählte Nationalitäten zuweisen, dürften gegen deutsches Recht verstoßen.
Das wird aber alles unter griechischer Hoheit gemacht. Die ausländischen Frontex-Beamten werden dafür die Verantwortung ablehnen. Genauso ist es mit den Inhaftierungen. In den heillos überfüllten griechischen Sammellagern hat ­allein Griechenland die Hoheit. Die Frontex-Beamten haben allerdings natürlich eine politische Verantwortung dafür, dass sie mit einer Mission nach Griechenland kommen, welche die wesent­lichen humanitären Probleme dort weder angeht noch angehen soll …
… und die Probleme möglicherweise sogar verschärft? Die technisch hochgerüsteten Frontex-Beamten dürften mit ihren Grenzkontrollen die griechischen Abschiebegefängnisse noch weiter auffüllen.
Nicht unbedingt. Denkbar ist auch der umgekehrte Effekt: Wenn der Frontex-Einsatz Menschen abschreckt, die türkisch-griechische Grenze zu überqueren, dann kommen eher weniger in die Abschiebegefängnisse als vorher. Die Schlepper, die Flüchtlinge nach Europa transportieren, steuern dann seltener Griechenland an und suchen anderen Routen. Politisch ist die EU natürlich mitverantwortlich für die heillos überfüllten Sammellager in Griechenland. Diese sind eine Folge der europäischen Flüchtlingspolitik.
Was fordern Sie?
Deutschland muss sich, wie die anderen Mitgliedstaaten auch, der gemeinsamen Verantwortung stellen. Das heißt, dass »Dublin II« – also jene EU-Verordnung, die seit 2003 dafür sorgt, dass Flüchtlinge in dem Staat bleiben müssen, in den sie zuerst einen Fuß gesetzt haben – geändert wird. Flüchtlinge brauchen wieder einen legalen Weg, um nach Deutschland zu kommen. Alle EU-Staaten müssen sich gemeinsam des Grenzproblems annehmen, es darf nicht allein auf die Grenzstaaten abgeladen werden.
Die Verteilung der Flüchtlinge gemäß Dublin II betrifft indessen nur die wenigen Flüchtlinge, die es an den Patrouillen vorbei in die EU schaffen. Für alle anderen geht es um ein anderes Thema: die grundsätzliche Abriegelung der EU nach außen.
Sicher. Grenzen sind Grenzen. Uns muss es hier um die Fragen gehen: Wann gibt es endlich ein europäisches Asylrecht? Und welche Möglichkeiten gibt es, legal nach Europa einzuwandern? Wenn ein europäisches Asylrecht geschaffen wird, dann hoffe ich, dass man sich an liberalen Grundsätzen orientiert und nicht an illiberalen.
Man kann sich allerdings fragen, was ein noch so liberales Asylrecht nützt, wenn Menschen erst ihr Leben riskieren müssen, um in dessen Genuss zu kommen. Sollten die Außengrenzen wieder durchlässiger werden?
Die Durchlässigkeit der Grenzen ist meines Erachtens nicht der Punkt. Flüchtlinge müssen in Europa angemessen betreut werden und Asylbewerber müssen die Möglichkeit eines fairen und großzügigen Verfahrens bekommen. Das ist die Essenz. Dass die Grenzen geöffnet werden, kann man von keinem Staat verlangen.
Gerade aus menschenrechtlicher Sicht: Warum eigentlich nicht?
(Seufzt) Das schafft soziale Probleme, denen kein Mensch mehr Herr werden kann. Das fordert deshalb auch niemand. Politiker etwa in Griechenland sagen ganz deutlich: Wenn der Ansturm der Flüchtlinge weiter anhält, dann sind Reaktionen aus der Bevölkerung zu befürchten, die  …  reaktionär sind. Italien ist da ein warnendes Beispiel.