Über das Punktesystem für »nützliche Einwanderer

Punkte für die Deutschland-Karte

Was Thilo Sarrazin nur besonders scharf formuliert hat, ist in vielen Parteien an sich unumstritten: Migrationspolitik muss sich stärker an der Nützlichkeit von Einwanderern für die Wirtschaft orientieren. Dafür soll ein Punktesystem eingeführt werden.

Die Empörung war groß, als im vergangenen September das Schicksal einer 20jährigen Hamburgerin bekannt wurde: Die Ausländerbehörde der Stadt hatte gedroht, Kate Amayo nach Ghana abzuschieben. Ihr war ein Aufenthaltsrecht verweigert worden, weil sie vor fünf Jahren illegal nach Deutschland eingereist war, um bei ihrer Mutter in Hamburg zu leben.
Der Fall scheint an sich wenig skandalös zu sein, denn die junge Frau sah sich mit der Normalität des deutschen Ausländerrechts konfrontiert. Dennoch bezeichnete die Süddeutsche Zeitung diesen Fall als »besonders bedrückend«. Das Hamburger Abendblatt des Springer-Verlags warf der Ausländerbehörde »erschreckende Sturheit« vor. Die Empörung hatte einen Grund: Amayo hatte gerade ihr Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,8 bestanden, im Fach Deutsch war sie die Jahrgangsbeste – in den Augen der Beobachter ist das ein »Musterbeispiel für Integration«.

Regelmäßig werden in der Integrationsdebatte solche »positiven Fälle« von Migranten ins Feld geführt. Mögen diese Verweise auch geeignet sein, rassistische Bilder von »dummen Migranten« zu widerlegen, suggeriert diese Argumentation jedoch auch, dass all diejenigen Migranten, die nicht dem Leistungsideal entsprechen, in Deutschland nichts zu suchen haben. Und letztlich geht es dabei weniger um die Lebensperspektive von Migranten als vielmehr um die Nützlichkeit ihrer Arbeitskraft für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Dass eine an Nützlichkeitskriterien orientierte Migrationspolitik keine Forderung ist, die allein von Thilo Sarrazin und Vertretern des rechtskonservativen Spektrums gestellt wird, beweist ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der an diesem Donnerstag im Bundestag diskutiert wird. Darin heißt es, dass Ausländerinnen und Ausländern, die durch ein besonderes Auswahlverfahren ihre Qualifikation und »Integrationsfähigkeit« unter Beweis gestellt haben, eine »dauerhafte Einwanderungsperspektive« in Deutschland eröffnet werden soll. Gefordert wird eine »Bedarfs­analyse«, bei der die gesellschaftlichen Bedürfnisse – also das wirtschaftliche Gesamtinteresse – im Mittelpunkt stehen. Dabei habe der »Bildungsgrad« der Einwanderer eine wesentliche Bedeutung. Begründet wird der Antrag mit dem demographischen Wandel und der sinkenden Anzahl von erwerbstätigen Personen in Deutschland. Eine gezielte Einwanderung sei wichtig, um Deutschland im zunehmenden Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte zu stärken. Bereits 2002 hatte die damalige rot-grüne Bundesregierung die Einführung eines »bedarfsorientierten Punktekatalogs« gefordert. Sie scheiterte jedoch am Widerstand von CDU und CSU, die damals auf die hohe Arbeitslosenquote unter Deutschen verwiesen.

Allein für die Einwanderung von Jüdinnen und Juden aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wird derzeit eine Prognose über deren »Integrationschancen« in Deutschland ermittelt. Bis vor vier Jahren war die Einwanderung von Juden aus diesen Gebieten voraussetzungslos möglich. Diese Praxis ging zurück auf einen Beschluss, den die letzte DDR-Regierung im Mai 1990 fasste. Sie war angesichts zunehmender antisemitischer Bedrohungen einer Forderung des Jüdischen Kulturvereins Berlin gefolgt, Juden und Personen aus jüdischen Familien aus der damaligen Sowjetunion in die noch bestehende DDR einwandern zu lassen. Diese Regelung war durch den Einigungsvertrag auf das Gebiet der gesamten Bundesrepublik ausgeweitet worden, bis sie im Jahr 2007 durch einen Punktekatalog ersetzt wurde.

Als Kriterien für ein »hohes Integrationspotential« gelten dabei unter anderem ein niedriges Lebensalter, die schulische und berufliche Qualifikation, Deutschkenntnisse und die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts. Der Punktekatalog war in Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland erarbeitet worden. »Wir wollen Juden nach Deutschland holen, die sich in die jüdische Gemeinschaft einbringen wollen«, sagte damals Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden. Man könne nicht weiterhin den Kurs verfolgen: »Jeder soll kommen, wir werden es schon schaffen.« Damit überfordere man die Gemeinden langfristig. Durch die geplanten Einschränkungen würde sich die Anzahl der Zuwanderungen von bislang bis zu 15 000 Personen pro Jahr wahrscheinlich auf 5 000 bis 7 000 reduzieren. Diese Schätzungen waren sehr optimistisch: Tatsächlich haben nur wenige der jüdischen Einwanderer den deutschen Behörden gegenüber ihre Integrationschancen nachweisen können. Nach Angaben der Bundesregierung sind im Jahr 2008 gerade einmal 20 Menschen auf Grundlage der Neuregelung nach Deutschland eingereist, 2009 waren es 89.

Der Antrag der Grünen im Bundestag ist kein bloßes »Strohfeuer der Opposition«, vielmehr ist zu erwarten, dass in naher Zukunft parteiübergreifend eine Entscheidung getroffen wird. Die geringe Zahl jüdischer Zuwanderer scheint die Angst innerhalb der Unionsparteien vor einer in ihren Augen übermäßigen Migration nach Deutschland zu mindern. Die FDP fordert bereits seit längerem eine »bedarfsorientiertere Migrationspolitik«, mittlerweile haben auch viele Politiker der CDU ihre Zustimmung zu einem derartigen Konzept kundgetan. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat bereits die Erarbeitung eines »Kriterienkatalogs« in Auftrag gegeben. Unterstützt werden die Parteien dabei von den zuständigen Behörden: Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, machte zuletzt darauf aufmerksam, dass der Fachkräftemangel allein durch deutsche Arbeitnehmer nicht zu beheben sei. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte bereits 2009 in einem Evaluierungsbericht zum Aufnahmeverfahren für jüdische Zuwanderer das Punktesystem als »ein mögliches Instrumentarium« bezeichnet, um eine qualifizierte Zuwanderung zu steuern. Nur die CSU sperrt sich bislang noch gegen solche Pläne, da ihrer Ansicht nach über eine Lockerung der Zuwanderungsregeln Belastungen für die Sozialkassen und die Integrationspolitik drohen. Die Linkspartei lehnt »Quoten, Kontingente und Punktesysteme« als »Ins­trumente einer menschenverachtenden, selektiven Einwanderungspolitik« ab.
Die Abschiebung von Kate Amayo wurde letztlich abgewendet. Die Härtefallkommission der Stadt Hamburg empfahl, ihr ein Bleiberecht zuzusprechen. Der Innensenator Heino Vahldieck (CDU) folgte dieser Empfehlung. Mittlerweile studiert Amayo Chemie – zuletzt hatten einige Bürger aus Hamburg sich gar bereit erklärt, ihr Studium finanziell zu unterstützen. Ihr Pass wirft indessen ein gutes Licht auf den deutschen Staat: Demnach besitzt sie eine »Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen«.