Hier fing alles an. Eine Reportage aus Tunis

Die tunesische Welle

In Tunesien begann der arabische Aufstand, und auch dort ist er noch lange nicht vorbei. Noch immer protestieren die Menschen Tag für Tag gegen die Übergangsregierung und das Fortbestehen der alten Macht.

Hätte man im Landeanflug auf Tunis in der Zeitung gelesen, die »tunesische Marianne« führe mit ihrer Fahne die Revolution an und Araber aus aller Welt schauten mit »traumerfüllten Augen« auf das Land wie auf ein Gemälde von Delacroix, man hätte sich vielleicht gefreut, wäre aber überzeugt gewesen, der Autor dieser Zeilen habe vor lauter Euphorie ein Gläschen Wein zu viel getrunken. Aber liest man sie nun, diese Zeilen von Ghazi Ben Jaballah aus der neuesten Ausgabe der linken tunesischen Zeitung Attariq Aljadid, treffen sie die Realität doch sehr gut. Bei einem ersten Gang durchs Zentrum der Stadt versteht man den Grund für ein solches Pathos. Eine arabische Hauptstadt und überall Graffiti, die »Freiheit«, »Demokratie«, »Laizismus« fordern. Und daneben junge Leute, Mädchen inmitten ihrer Freunde, die mit erhitzten Gesichtern über die nächsten Schritte der Revolution diskutieren. Käme Marianne um die Ecke, es würde einen in diesem Moment nicht einmal verwundern. Nur Waffen, die sieht man nirgends. Auch hassverzerrte Gesichter, angeblich ja Wahrzeichen der arabischen Straße, sucht man vergebens.
Im Gegenteil, man hat den Eindruck, eine ganze Gesellschaft sei jäh aus einem Albtraum erwacht, und während sie noch böse Erinnerungen abschüttelt, freut sie sich schon über den neuen Morgen. Was gestern noch die tägliche Existenz bestimmte – Misstrauen gegenüber jedem und allem und vor allem la peur, die allen Arabern so wohl bekannte Angst vor den allgegenwärtigen Geheimdiensten, ist endlich Vergangenheit. Passanten auf der Straße verfluchen laut den alten Präsidenten und lachen dann erleichtert auf. Jetzt kann man es endlich: reden, diskutieren, über alles sprechen. Und zwar öffentlich, nicht nur heimlich und hinter verschlossenen Türen. Die Flaniermeile Avenue Bourguiba, eine einzige Agora.

Und die neue Freiheit wird genutzt, von jungen Demonstranten ebenso wie von traditionell gekleideten Beduinen aus dem Süden des Landes: »Weg mit der Regierung«, »Vive la Révolution«, und immer wieder ist da Marianne: »liberté, egalité, fraternité«. Wer grüne Fahnen oder Allahu-Akbar-Rufe sucht, sollte lieber an einer Demo in London teilnehmen, hier gibt es nur die allgegenwärtige tunesische Fahne. Und gekleidet sind die Menschen hier eher so, dass man sich immer wieder sagen muss: Nein, das ist nicht Spanien oder Griechenland, sondern ein arabisches Land. Arm in Arm posieren Paare vor dem Panzer, der das Innenministerium schützt. Eben flogen da noch Tränengasgranaten, aber das ist zehn Minuten später schon vergessen. Die Soldaten schützen die Revolution, erklären die Passanten. Die Polizei sei ein Gegner, das Militär nicht. Der ehemalige Mathematikprofessor und Altlinke Taoufik Karkar schmunzelt: »Das ist wie 1975 bei der Nelkenrevolution in Portugal.«
Der beißende Geruch von Tränengas und die ständig tränenden Augen gehören dazu. Nach dem Einsatz stehen sie sofort wieder beisammen, dort eine Frau, die mit geballter Faust fordert, dass der Islam künftig nicht mehr Staatsreligion sein dürfe. Und Dutzende Männer lauschen gespannt.
In den Seitenstraßen geht das Leben seinen normalen Gang, außer dass in den Cafés nicht Fußball, sondern der Aufstand in Ägypten die Gemüter erhitzt. Auf dem Weg zur Zentrale der Ettajdid-Partei ertönen aus einem Wasserpfeifencafé Jubelrufe und Applaus. Gerade haben Protestierende in Kairos Straßen wieder ein Polizeifahrzeug in die Flucht geschlagen. Hier nennen sie die Ereignisse voller Stolz »die tunesische Welle«. Oder in den Worten des Journalisten Ben Jaballah: »Wenn Tunesien erwacht, dann bebt die arabische Welt.« Das Beben in Ägypten verfolgen die meisten allerdings mit gemischten Gefühlen: 70 Prozent Analphabeten, so viele Arme und dann die Muslimbrüder, ob das gut geht? Tunesien sei da anders, mediterraner, mit hohem Bildungsniveau und niedrigerer Geburtenrate. Doch was gut sei, man habe ein Modell geschaffen, dem die anderen nacheifern könnten. Man stelle sich nur vor, es hätte im Jemen angefangen! Nur wie europäische Schreibtischstrategen, die derweil in Talkshows diskutieren, ob Mubaraks Diktatur nicht doch die bessere Alternative für den Koloss am Nil sei, redet hier niemand. Mubarak, Omar al-Bashir, Assad und wie sie sonst noch alle heißen, müssen weg. Darin ist man sich einig.

Und so denkt Professor Karkar auch nicht nur an Portugal, sondern an 1989. So etwas wie in Osteuropa stünde nun für die Region an. Und sein Kollege Hishem Skik, Chefredakteur der Adariq Aljadid, dem Zentralorgan der Ettajdid-Partei, reflektiert in der Parteizentrale über Tunesiens Zukunft: »Am 14. Januar fing mit Ben Alis Sturz eine neue Epoche an, alles geht sehr schnell, und wir müssen die Situation stabilisieren, damit die Revolution nicht entgleist. Wir haben uns von Anfang an an der Übergangsregierung beteiligt, aber zugleich den Druck von der Straße auf sie unterstützt – eine Doppelstrategie. Die Regierungsbeteiligung hat uns jede Menge Kritik eingebracht, denn wir kommen aus einer Kultur der Opposition. Drei Dinge sind jetzt wichtig: Erstens muss die neue Regierung konkrete Verbesserungen auf den Weg bringen. Zweitens soll ein Komitee für politische Reformen zusammentreten, um eine neue säkulare, parlamentarische Verfassung auszuarbeiten und um Gesetze zu überarbeiten. Zum Dritten brauchen wir eine Kommission zur Untersuchung der Verbrechen des Ben-Ali-Regimes.« Und lächelnd fügt er hinzu: »Hoffentlich macht die Regierung nicht zu viele Dummheiten.«
Draußen ertönen Rufe. »Das sind die Islamisten, sie haben heute zur Großkundgebung aufgerufen«, erklärt Skik. Auf der Straße stehen 50 Bärtige und fordern Freiheit für die politischen Gefangenen. Richtig glücklich sehen sie nicht aus, denn sie fallen auf mit ihrem Outfit. Später melden die Agenturen dann, dass 200 Islamisten in Tunis demonstriert hätten. Daneben verteilen junge Frauen Aufrufe für eine Demonstration am nächsten Tag. Da soll es um die Forderung gehen, aus Tunesien eine wirklich laizistische Republik zu machen. Sie erläutert: »Tunesien ist zwar in der arabischen Welt am fortschrittlichsten. Aber das reicht uns nicht. Denn in der jetzigen Verfassung steht, der Islam sei Staatsreligion. Das muss weg.« Morgen, so verspricht sie uns, während die Gruppe Bärtiger in einer Seitengasse verschwindet, würden wir das wahre Gesicht Tunesiens sehen.

Um drei Uhr am folgenden Nachmittag ist Treffpunkt dieser ersten wirklich organisierten Demonstration der Revolution. Denn bislang war alles spontan, über SMS und Facebook organisiert. Wie Ali*, der sich als »Revolutionär der ersten Stunde« vorstellt, erklärt, sei alles spontan von der Jugend ausgegangen. Deshalb sieht man heute auch zum ersten Mal gedruckte Plakate. Und auf denen steht: »Liberté«, »Freedom« und »Für eine laizistische Demokratie«. Wann hat die arabische Welt so etwas schon einmal gesehen? Anfangs sind es rund 500, die sich da auf der Avenue Bourgiba versammeln. Gerade endete eine andere Spontandemo gegen, ja gegen was eigentlich? Auf jeden Fall, wie alles dieser Tage, für die Revolution und das Neue und gegen das Alte. Und das reicht den Menschen schon, um die Fäuste zu recken und die tunesische Nationalhymne anzustimmen, die irgendwie ganz entfernt an die Marseillaise erinnert.
Und dann tauchen sie plötzlich auf, mit Schlagstöcken bewaffnet, die gefürchteten Milizionäre Ben Alis. Einige Demonstranten flüchten, andere halten stand, es kommt zu Prügelszenen. Aber den Demonstranten gelingt es, die Schläger abzudrängen. Inzwischen sind es bestimmt 2 000, Frauen und Männer, ganz viele Junge, aber auch Alte. Einer trägt die traditionelle tunesische Kopfbedeckung, den Fez. Und vielleicht ein Viertel der Frauen trägt Kopftuch. Was andernorts wie ein unüberbrückbarer Widerspruch erschien, fällt hier nicht einmal auf. Ali meint: »Freiheit, die ich meine, ist auch die Freiheit, sich so anzuziehen, wie man mag.« Am Ende der Demonstra­tion sind es 4 000. Für echte Gleichberechtigung, gegen Xenophobie und Obskurantismus werben sie auf ihren Plakaten, und für Emanzipation, modernité und immer wieder Freiheit und Demokratie. Und alle lachen und skandieren Parolen, vergessen die Schläger von eben. »C’est la nouvelle Tunisie«, ruft es aus der Menge.
Aber am nächsten Tag sucht man in den europäischen Medien vergebens eigenständige Berichte über das Ereignis. Man ist viel zu beschäftigt mit der Ankunft des Führers der bis vor einer Woche verbotenen hiesigen Islamistenpartei En-Nahda. Befragt, was dies für Tunesien bedeute, meint Karim, ein junger Journalist: »Nicht viel.« Die Islamisten seien völlig desorganisiert und bestenfalls in ein paar Jahren eine Bedrohung. Außerdem seien auch Gegenkundgebungen geplant, auf einer Facebook-Seite mit 40 000 Usern hätten tunesische Frauen angekündigt, den Islamisten Rashid Ghannouchi im Bikini empfangen zu wollen. So weit kam es dann doch nicht. Einem Begrüßungskomitee von geschätzten 1 000 Verehrern standen etwas über 100 laizistische Gegendemonstranten gegenüber. Vor seinem Abflug hatte der Muslimbruder, der früher durch besonders drastische antisemitische Äußerungen auffiel, noch erklärt, die Sharia werde es in Tunesien mit ihm nicht geben. Ob er nur Kreide gefressen hat oder sein Versprechen, man strebe eine demokratische Republik nach skandinavischem Vorbild an, ernst meint, wird sich zeigen. Die meisten tunesischen Zeitungen, die dieser Tage ihre neu gewonnene Pressefreiheit auskosten, lassen an dem 70jährigen jedenfalls kein gutes Haar: Sollte Ghannouchi heimlich von einem Empfang à la Khomeini auf dem Carthago International Airport geträumt haben, von jubelnden Massen, die seine Fahrt in die Stadt säumen, dann sollte er besser nicht aufwachen.

Auf den Straßen geht außerdem das Gerücht um, er habe heimliche Absprachen mit Ghaddafi ge­­troffen. Und den Revolutionsführer aus dem Nachbarland kann man in Tunesien traditionell nicht leiden. »Ghaddafi ist seit 1969 an der Macht, er ist der libysche Ben Ali«, sagt Moemen, ein junger Philosophiestudent, »und er hat Angst, dass die tunesische Revolution nach Libyen übergreift. Er könnte die tunesischen Islamisten nutzen, wenn er die Lage hier destabilisieren möchte.« Aber auch Moemen treibt die Frage nach einer neuen Verfassung weit mehr um: »Säkularismus ist, wenn Juden in Synagogen, Christen in Kirchen und Muslime in Moscheen Gottesdienste abhalten und die Atheisten derweil im Café sitzen. Aber auf der Straße sind wir alle nur Citoyens.« Citoyenneté, also Staatsbürgerschaft nach französischem Vorbild, ist auch so ein Begriff, der ständig auftaucht in Reden und auf Plakaten.
Ali, der ausführt, wie man bei Zusammenstößen mit der Polizei nach Fußballspielen deren Strategie gelernt und dieses Wissen nun für die Revolution nutzbar gemacht habe, glüht zwar in politischem Eifer, ist sich allerdings weit weniger klar, was er von der Zukunft will. Er als Muslim habe Jihad für die Freiheit und die Republik ge­macht. Er ist überzeugter Citoyen und sieht in solchen Äußerungen keinerlei Widerspruch. Aber sollte man die Islamisten erstarken lassen, könnten sie in den Gruppen all dieser Jugendlicher, die sich stolz als Wächter der Revolution bezeichnen, erfolgreich agitieren. Denn die Verschwörungstheorien, die ihnen al-Jazeera und die Staatsmedien jahrelang eingetrichtert haben, sind alle noch da. Nur eben derzeit nicht präsent: Vor der ägyptischen Botschaft gab es Demonstrationen, die amerikanische ist dieser Tage in Tunis ein ruhiger Ort.
Natürlich wissen einige dieser Kids ganz genau, was in Washington und Jerusalem so hinter verschlossenen Türen besprochen wird, und sprühen dann Graffiti an die Wand, in der sie die Regierung als Nazis und Zionisten zugleich be­schimpfen. Das gab es auf der Place de Kasbah zu sehen, auf der sich die Freiheitskarawane niedergelassen hatte, eine Gruppe von Menschen aus Süd- und Zentraltunesien, wo die Revolution mit der Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis ihren Anfang nahm. Fünf Tage kampierte man vor den Ministerien, dann räumte die Polizei ohne Vorankündigung unter Einsatz von Tränengas, brutaler Gewalt und deutschen Schäferhunden den Platz. Eines fällt auf: Spricht man die Menschen nicht darauf an, hört man auch nichts vom Nahost-Konflikt, der die arabische Straße doch angeblich so bewegt. Ben Jaballah hat in seiner Hymne an die kommende Freiheit Arabiens alle »Völker Arabiens« aufgezählt, selbst die mauretanischen Freunde hat er nicht vergessen, aber ausgerechnet die Palästinenser fehlen in seiner Aufzählung. Unangenehm wäre es ihm wohl, wiese man ihn darauf hin.
Aber es ist zugleich symptomatisch. Denn dies ist eine Revolution und keine Intifada. Im Fernsehen laufen Bilder von jungen Frauen und Männern, die singend Arm in Arm auf den Boulevards demonstrieren. Hat man bis gestern mit arabischer Revolte noch Bilder von brennenden israelischen Militärfahrzeugen, Intifada-Kids mit Zwillen, Suicide Bombers und hasserfüllten, »Allahu Akbar« schreienden Vollbärten verbunden, so ist dies nun Vergangenheit, Teil des alten Albtraums. Das Ziel der Demonstrantinnen und Demonstranten heute ist es, normale Bürger in einem normalen demokratischen Staat zu sein. Citoyens eben. Als arab exceptionalism hat der libanesische Autor Fouad Ajami einmal die Haltung von nationalistischen Despoten, islamistischer Opposition und westlicher Wahrnehmung bezeichnet, zu meinen, dass im Nahen Osten und im Maghreb die Menschen eben irgendwie anders seien als im Rest der Welt. Kultur und Religion statt Lebensfreude und Vernunft. Mit die­sem Vorurteil haben die Tunesier schon jetzt aufgeräumt. Selbst wenn, und nichts spricht dafür, diese Revolution scheitern sollte, niemand wird mehr sagen können, in dieser Region der Welt zähle nur der Dialog der Kulturen und nicht etwa Freiheit und Würde. Marianne sei Dank.

* Name von der Redaktion geändert