Über den Film »Picco« 

Horror hinter Gittern

Der Spielfilm »Picco« durchleuchtet die Zustände in deutschen Gefängnissen, wo gegenseitige Erniedrigung zum Alltag gehört.

Der Film »Picco« beginnt mit Aufnahmen von Schriftzügen an Gefängniswänden: »Wenn ich einmal sterbe, komme ich in den Himmel, die Zeit in der Hölle hab’ ich nämlich hinter mir«, steht dort. Oder: »Egal wem du traust, es wird missbraucht, denkt daran!« Dazu hört man nur das monotone Geräusch eines immer wieder an die Wand geworfenen Tennisballs. Es ist der Einstieg in ein schlicht inszeniertes, klaustrophobisches Psychodrama, an dessen Ende der wohl verstörendste Mord der deutschen Kinogeschichte steht. Der Regisseur und Drehbuchautor Philip Koch hat für seinen ersten Langfilm zwei Jahre in diversen Jugendstrafanstalten recherchiert und viele jugendliche Gefangene interviewt. Vor allem hat er in »Picco« die Ereignisse in der JVA Siegburg im Jahr 2006 verarbeitet, bei denen drei Jugendliche einen Zellengenossen grausam zu Tode folterten.
Der sensibel wirkende Protagonist Kevin (Constantin von Jascheroff) ist der Neuling im Jugendgefängnis, ein »Picco«. In der Sozialhierarchie steht er ganz unten – und das lassen ihn seine Mitgefangenen spüren. Es klingt banal, dass Kevin als Neuer dazu gezwungen wird, für seine Zellengenossen den Abwasch zu erledigen. Doch in dem sozialdarwinistischen System Jugendknast kann für Kevin jede Stichelei und Erniedrigung, die er sich gefallen lässt, seine endgültige Stigmatisierung als »Opfer« bedeuten. Durch die Kamera, die ihn im ersten Teil des Films fast permanent begleitet, nimmt der Zuschauer seine Perspektive ein. Wie Kevin scheint man selbst machtlos gegenüber der Bedrohung durch seine nicht gerade sympathischen drei Mitbewohner in Zelle 10: Marc (Frederick Lau), einen unberechenbaren Choleriker mit Aggressionsproblem, Andy (Martin Kiefer), einen kaltblütigen Strippenzieher, und Tommy (Joel Basman), der aufgrund seiner physischen Unterlegenheit versucht, mit Opportunismus irgendwie durchzukommen. Was sie alle ins Gefängnis gebracht hat, erfährt man nicht. Kontakt findet Kevin nur zu Tommy, der ihm die Grundregeln des Knastlebens beibringt, nach denen Menschlichkeit und Zivilcourage als gefährliche Schwächen gelten. Als beide Zeuge einer brutalen Vergewaltigung werden, hält Tommy Kevin davon ab, Hilfe zu rufen. Ein Jahr länger wegen unterlassener Hilfeleistung abzusitzen, sei besser, als mit dem Täter, einem verurteilten Mörder, Stress zu kriegen: »Du teilst aus oder du steckst ein. Check das doch mal! Hör’ auf, dich wie ein Opfer aufzuführen!« belehrt Tommy Kevin, als dieser ihn später mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie doch etwas hätten tun sollen. Die innere Rebellion Kevins gegen die ungeschriebenen Gesetze des Jugendstrafvollzugs beginnt von da an nachzulassen. Seine Transformation vom Opfer zum Täter erscheint innerhalb dieses Systems wie eine logische Notwendigkeit.
Nach dem ersten Drittel öffnet sich der Film mehr und mehr seinen Nebenfiguren und folgt dabei einer klaren, fast monotonen Struktur. Kevin und seine Zellengenossen werden der Reihe nach in ihrem Gefängnisalltag gezeigt, bei Spaziergängen auf dem Hof, während der kurzen Besuchszeiten mit Angehörigen oder bei der Gefängnispsychologin. Über Tommy erfährt man, dass er bereits einen Selbstmordversuch hinter sich hat und regelmäßig Medikamente nimmt. Auch Kevin, der nächtliche Panikattacken zu überstehen hat, werden von der Psychologin wohlmeinend Antidepressiva angeboten. Den Film trägt in diesen Szenen über weite Strecken das authentische Spiel seiner Hauptdarsteller, die die Isolation ihrer Charaktere ohne Überzeichnungen glaubhaft abbilden. Auch die außergewöhnliche Kamera, die oft nah an den Protagonisten ist, manchmal starr die Einstellung hält, obwohl niemand mehr zu sehen ist, wirkt mit ihrer beklemmenden Bildsprache eindrücklich: Es ist eine einsame und feindselige Welt, in der sich die Jugendlichen bewegen. Statt ihrer Resozialisierung gehen sie ihrer Entsozialisierung entgegen.
Die Hackordnung unter den Gefangenen wird lediglich von Zeit zu Zeit von den Wärtern gestört, die in kritischen Situationen, sofern sie von ihnen überhaupt Notiz nehmen, einschreiten. Philip Koch vermeidet dabei eine dämonisierende Darstellung der Beamten. Sie wirken vielmehr onkelhaft und fürsorglich, wenn sie mit den Jugendlichen Tischtennis spielen oder bei einer zufällig bemerkten Misshandlung intervenieren. Es geht Koch um eine Kritik am Wegschauen. Als Kevin einen Wärter nach dem Selbstmord eines der Gefangenen zur Rede stellt, antwortet er, man könne da einfach nichts machen.
Der 29jährige Regisseur begreift das Gefängnis als eine Art Spiegel der Gesellschaft. In Interviews mit ihm fallen Sätze wie: »Eine Gesellschaft definiert sich darüber, wie sie mit ihren Außenseitern umgeht.« Oder: »Das Gefängnis ist ein Ort des sozial Unbewussten.« Dementsprechend schmerzhaft sei die Konfrontation mit dem Verdrängten.
Den Film bis zum Ende anzusehen, ist in der Tat nicht einfach. Bei seiner Premiere letztes Jahr auf dem »Filmfestival Max Ophüls Preis« oder auch bei seiner Vorführung in Cannes verließen nicht wenige Zuschauer vorzeitig den Saal, und von denen, die bis zum Ende blieben, buhte die Hälfte den Film gnadenlos aus. Der Grund ist das letzte Drittel des Films, in dem gegenseitige Demütigungen der Häftlinge in immer kürzeren Abschnitten gezeigt werden und schließlich in einer zwanzigminütigen Foltersequenz kulminieren. Wenn auch die Realität in der JVA Siegburg noch um ein gutes Stück grausamer gewesen sein muss – lassen sich in wenigen Minuten Film doch nur einige der Quälereien verdichten, die in Siegburg über Stunden stattfanden –, haben diese Szenen eine unbeschreiblich erschreckende Wirkung. Man sieht nicht alles. Die Gewalt wirkt zu keinem Zeitpunkt ausstellend oder voyeuristisch. Es sind einfache Einstellungen auf ein angst- und schmerzverzerrtes Gesicht, Schreie, das Zeigen eines mit Blut und Kot verschmierten Stiels einer Klobürste, die den Horror hervorrufen. Und vor allem ist es das nachvollziehbare Abdriften Kevins in die Rolle des Täters, das verstört. Denn er weiß, dass er in einem bipolaren System, das nur Austeilen oder Einstecken kennt, kein Opfer sein darf. Nach der Tortur zeigt eine kurze Einstellung den Tennisball aus der Eingangsszene, diesmal in einer Ecke liegend, voller Blut.
Eine der Stärken des Films, das Zuspitzen der Handlung zu einem erschütternden Kammerspiel, das den Fokus auf die Psychodynamik zwischen Täter, Mitläufer und Opfer legt, ist jedoch gleichzeitig eine seiner Schwächen. Es sind vor allem die letzten 45 Minuten des Films, die man im Gedächtnis behält – als ausgedehntes Porträt des Sadismus einzelner Häftlinge. Die Kritik an den Zuständen im Gefängnis, die Koch in der ersten Hälfte formuliert, droht dabei fast unterzugehen. Dennoch hinterlässt »Picco« beim Zuschauer ein bleibendes Unbehagen. Es ist der erste deutschsprachige Kinofilm, der sich diesem Thema widmet, und er zeigt die Situation der jugendlichen Gefangenen als denkbar aussichtslos – angesichts der Vorkommnisse in Siegburg und anderen JVA zu Recht. Bei der Premiere auf den fundamentalen Pessimismus seines Debütfilms angesprochen, entgegnete der Regisseur lakonisch: »Wo keine Hoffnung ist, soll man auch keine herbeireden.«

»Picco« (D/2010). Regie: Philip Koch, Darsteller: Constantin von Jascheroff, Joel Basman, Frederick Lau, Martin Kiefer. Start: 3. Februar