Yad Vashem geht online

Die Shoah im Netz

Archive in Israel, Deutschland und den USA stellen Dokumente, Fotos und Zeitzeugen-Erinnerungen zum Thema Holocaust online und eröffnen der Forschung und Geschichtsvermittlung neue Möglichkeiten.

Im Aufbau multimedialer Archive zur Geschichte des Holocaust liegt die Chance, die Kenntnis über den größten Völkermord der Menschheitsgeschichte nachfolgenden Generationen zu überliefern und die Erinnerung an die Opfer zu pflegen. Im Jahr 2006 öffnete die Freie Universität Berlin den Zugang zum »Visual History Archive« des »Shoah Foundation Institute for Visual History and Education der University of Southern California« (USC). Studierende und Lehrende der Universität sowie externe Forschungseinrichtungen und Wissenschaftler haben seitdem Zugriff auf 52 000 digitalisierte Interviews mit Überlebenden und Zeugen des Holocaust aus 56 Ländern.
Gründer des Shoah Foundation Institute ist der US-amerikanische Regisseur Steven Spielberg. Während der Dreharbeiten zu »Schindlers Liste« waren Holocaust-Überlebende an Spielberg mit dem Wunsch herangetreten, über ihre Erinnerungen vor der Kamera zu berichten. Steven Spielberg initiierte daraufhin ein Projekt zur Dokumentation von Zeitzeugenberichten über den Holocaust und rief im Jahre 1994 die gemeinnützige Shoah Foundation ins Leben. Die Foundation erhielt die Aufgabe, Erinnerungen von Überlebenden auf Video aufzuzeichnen, um sie nachfolgenden Generationen als Unterrichtsmaterial sowie für Forschungsprojekte zur Verfügung zu stellen.
Die Shoah Foundation kooperiert weltweit mit ausgesuchten Forschungseinrichtungen. Erster Partner außerhalb der USA wurde die Freie Universität Berlin. An der FU Studierende und Lehrende haben nun die Möglichkeit, schnell und gezielt auf die digitalen Interviews im »Visual History Archive« der Foundation zuzugreifen. Eine ausgefeilte Suchfunktion mit insgesamt 50 000 Schlagworten erschließt eine Sammlung von insgesamt 120 000 Interviewstunden und ermöglicht so mit einfachsten Mitteln gezielte und erfolgreiche Recherchen. Für die Nutzung des Visual History Archive ist eine einmalige Registrierung erforderlich, die Registrierungs­daten werden vom Shoah Foun-dation Institute gespeichert. Das von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin geförderte Projekt »Zeugen der Shoah« bietet Schülergruppen den Besuch und die Nutzung des Archivs an. Für den Schulunterricht erstellte DVDs mit Lern­soft­ware und Lehrerheft vermitteln die Geschichte des Holocaust und bereiten Schüler auf den Besuch von Gedenkstätten vor. Die gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) herausgegebenen Bildungsmaterialien »Zeitzeugen-Interviews für den Unterricht« sind seit Januar 2011 über die BPB bestellbar. Als Ergänzung dazu entstand 2008 als gemeinsames Projekt der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«, des Deutschen Historischen Museums und der Freien Universität Berlin das Online-Archiv »Zwangsarbeit 1939–1945«. Insgesamt 600 Audio- und Videozeugnisse sind nach einer elektronischen Registrierung für den Nutzer direkt verfügbar. So berichten beispielsweise unter der Rubrik »Ereignisse« die drei jüdischen KZ-Häftlinge Paul S. (Wien/Paris), Henry G. (Ungarn/USA) und Liliana S. (Mailand), wie sie die Todesmärsche von Auschwitz nach Westen erlebten und welche Bedeutung der 27. Januar, der zugleich auch Gedenktag für die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee ist, für sie als Überlebende hat.
Fast gleichzeitig hat die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem die weltgrößte Sammlung von Holocaust-Dokumenten digitalisiert. Die Gedenkstätte ist dazu eine Kooperation mit Google eingegangen, um ihre Fotografien und Dokumente interaktiv über das Internet recherchierbar zu machen. Die ersten 130 000 Fotografien wurden am 26. Januar dieses Jahres, am Vortag des Internationalen Holocaust-Gedenktages, online gestellt.
Obwohl ein größerer Teil der Archive von Yad Vashem bereits auf der Website online zugänglich war, ist es jetzt möglich, auf der Seite nach Stichworten und Daten zu suchen – ähnlich der Suche bei Google. Die Besucher können nun die betreffende Seite der Datenbank erweitern, indem sie ihre eigenen Kommentare und auch Dokumente über ihre Familienmitglieder einfügen, wie bei Facebook und anderen sozialen Netzwerken. Es bestehe zwar das Risiko, dass dieser Zugang zum Archiv für antisemitische Kommentare missbraucht werden könne, so der Vorsitzende von Yad Vashem, Avner Shalev, ungleich größer als der mögliche Schaden sei jedoch der Nutzen für die nachfolgenden Generationen.
Mit Hilfe der Zeitzeugenberichte wird man auch in ferner Zukunft Forschungsprojekte zum Holocaust realisieren können. Gleichzeitig ermöglicht die Auswertung der Zeitzeugenberichte eine Korrektur der Geschichtsschreibung über den Holocaust. Bis heute stehen in der öffentlichen Diskussion wie auch in der Geschichtsschreibung zumeist die Verfolgung und der Völkermord an den europäischen Juden im Mittelpunkt der Betrachtungen. Gerade in der Diskussion wird vielfach die Frage gestellt: »Warum haben Juden keinen Widerstand geleistet?« Tatsächlich wurde die Geschichte des Holocaust in einzelnen Aspekten auf den Eindruck reduziert, »Juden hätten sich wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen«, ein Bild, das bis heute die öffentliche Vorstellung vom Verhalten der jüdischen Bevölkerung während der Zeit der Verfolgung dominiert. In der Geschichtsschreibung war der jüdische Widerstand gegen den Nationalsozialismus lange ignoriert oder unterschätzt worden. Dabei war das Thema Jüdischer Widerstand durch die Holocaust- und Widerstandsforschung bereits in den siebziger Jahren so gut aufgearbeitet, dass man dieses Bild mit guten Argumenten hätte in Frage stellen können. Auch dieser Aspekt der Geschichte des Holocaust wird sich durch die Auswertung der in den digitalisierten Archiven zur Verfügung stehenden Zeitzeugenberichte in Zukunft sorgfältiger und differenzierter darstellen lassen.

Visual History Archive an der Freien Universität Berlin:
Online-Archiv von Yad Vashem: