Retrospektive zu Ingmar Bergman auf der 61. Berlinale

Es lächelte die Sommernacht

Die Berlinale widmet Ingmar Bergman eine Retrospektive, das Berliner Filmmuseum zeigt persönliche Dokumente und Arbeitszeugnisse aus dem Nachlass des 2007 verstorbenen schwedischen Regisseurs in einer großen Sonderausstellung.

»Schreie und Flüstern« (1971/72) ist einer von Ingmar Bergmans sprachkatastrophischen Filmen. Die erste menschliche Äußerung ist ein erstickter Laut, unmittelbar nach dem Aufwachen. Langsam erst steigert er sich zum gepressten Stöhnen. Agnes (Harriet Andersson), eine unheilbar krebskranke Frau, leidet an Schmerzen und Todesfurcht. Ihre beiden Schwestern, emotional einander entfremdet, und die Dienstmagd Anna begleiten ihr Sterben, gesprochen wird wenig. An die Stelle sprachlicher Kommunikation rücken Schreie und Verstummen, Stammeln, Röcheln, unverständliches Flüstern, Weinen, stumme und herausgebrüllte Verzweiflung – vorsprachliche Zustände.
Das Versagen von Sprache zieht sich durch Bergmans gesamtes Werk. In »Persona« (1965) versinkt eine Schauspielerin in plötzliche Apathie und Schweigen, während die sie behandelnde Krankenschwester immer ungehemmter in ihrem bekenntnishaften Sprechen wird. Und auch »Das Schweigen« (1963), ein Film, der mit seiner Verbindung aus Schwestern- und Krankheitsgeschichte wie ein Vorläufer zu »Schreie und Flüstern« wirkt, ist von Erstickungs- und Verzweiflungsanfällen bestimmt und vom ausgehungerten Warten auf Worte. Bergman inszeniert dieses Sprachversagen, indem er seine Filme immer wieder und über weite Strecken hinweg als stummfilmartige, dialogfreie »Geräuschfilme« gestaltet. Vor allem das allgegenwärtige Ticken von Uhren hat etwas Bedrohliches. Es macht das Verstreichen und Knappwerden der Zeit geradezu physisch erfahrbar, steht aber gleichzeitig für einen höchst unbefriedigenden, in seiner Monotonie unerträglichen Kommunikationsersatz. Hinzu kommen klaus­trophobisch anmutende Innenräume, gegen deren übermächtige Atmosphäre einfach nicht anzureden ist – in »Das Schweigen« das enge Zugabteil oder auch das Hotelzimmer, in dem sich die beiden Schwestern (Ingrid Thulin und Gunnel Lindblom) gegenseitig die Luft rauben. In diesem Film wirken die Figuren zusätzlich isoliert, da ihnen die Sprache der Außenwelt gänzlich verschlossen ist. Sie bereisen ein fremdes Land und verstehen buchstäblich kein Wort.
Gleichzeitig aber gibt es bei Bergman die vollkommene Seelenentblößung, die anfallartig ausbrechenden Aussprachen, in denen scheinbar nichts mehr ungesagt bleibt. Dialoge steigern sich zu verbalen Zweikämpfen etwa der fünfstündige Redemarathon in »Szenen einer Ehe« (1972/73) oder auch die erschöpfende Wortschlacht zwischen Mutter und Tochter in »Herbstsonate« (1977/78). »Ist das Unglück der Tochter der Triumph der Mutter?« fragt hier Liv Ullmann ihre von Ingrid Bergman gespielte Mutter nach einer kräftezehrenden Psycho­schlacht. Bergmans Figuren stecken mit ihren Anerkennungskämpfen, Rollenkrisen und Versagensängsten immer schon in der bürgerlichen Ordnung fest, drohen noch tiefer im Familien- und Ehesumpf zu versinken und sich in ihren neurotischen Beziehungen vollständig zu verlieren. Sie können sich schlichtweg nicht anders denken denn als Schwestern, Töchter, Söhne und Ehefrauen. Nicht von ungefähr ist das bürgerliche Wohn- und Schlafzimmer das von Bergman bevorzugte Setting.
Dem schwedischen Regisseur wurde oft vorgeworfen, dass er seine Figuren in einem sozialen Vakuum verorte und damit ein ahistorisches Weltbild präsentiere. Das stimmt nur bedingt. Gerade in seinem wenig bekannten Frühwerk wie auch der zweiten Werkphase, die mit dem Erfolg von »Sehnsucht der Frauen« (1952) einsetzt und mit »Das Lächeln einer Sommernacht« (1956) Bergmans endgültigen Durchbruch bewirkte, spielen Klassenunterschiede und -konflikte eine Rolle. In »Das Gefängnis« (1948-1949), dem ersten Film, bei dem Bergman sowohl das Drehbuch schrieb als auch Regie führte, sind die existenziellen Probleme und Ängste der Figuren nicht ohne ihre sozialen Positionen zu verstehen. Und in »Die Zeit mit Monika« (1953) zerbricht die Beziehung von Monika und Harry nicht zuletzt an der Unverträglichkeit ihres Freiheitswillens mit den kleinbürgerlichen Aufstiegsbestrebungen ihres Mannes.
Erst in den späteren Filmen beschreibt Bergman dezidiert ein Milieu, das sich nicht nur in eine Art innere Emigration zurückgezogen hat, sondern auch in entlegenen Landschaften Zuflucht sucht. Auf der Suche nach einem geeigneten Ort für die Außenaufnahmen von »Wie in einem Spiegel« (1960/61) entdeckte Bergman die Insel Farö – ein von der Entvölkerung bedrohtes Eiland nördlich von Gotland. Dieser Ort, den er nicht nur in der Trilogie der »Fårö-Filme« (»Passion«, »Die Stunde des Wolfs«, »Die Schande«), sondern auch in zwei Dokumentationen verewigte, wurde zu seiner Zufluchts- und Rückzugsstätte. Die »Fårö-Dokumente« feiern zwar die fast unwirkliche Kargheit der Landschaft und manifestieren einmal mehr das Bild »nordischer Schwere«, befassen sich aber für Bergman ungewöhnlich realitätsnah mit den ökonomischen und sozialen Problemen auf der ­Insel.
Trotz Bergmans ungeheurer Produktivität, die mit Brüchen, Stilwechseln und einer relativ langen Phase der Selbstfindung verbunden war – sein filmisches Schaffen umfasst über 60 Arbeiten –, wird sein Werk noch immer gerne monolithisch gesehen. Tatsächlich hat Bergman in seinen Filmen universelle Themen – Glaube, Existenz, Liebe, Sex und Tod – in einer beispiellosen Dichte und Intensität bearbeitet, was so allerdings nur durch die Abwesenheit eines gesellschaftlichen (und historisch bestimmbaren) Kontexts gelingen konnte. Ein »Außen« im eigentlichen Sinn gibt es bei Bergman nicht, auch Gott ist natürlich immer schon drin in der Ordnung (ebenso wie die irdischen strafenden und schweigenden Väter). Seine Erinnerungen an die Kindheit, die von einem patriarchalen Vater – von Beruf Pastor – und einem allgegenwärtigen Gefühl der Angst bestimmt war, sind prägend für Bergmans Filme. Sie fließen unter an­derem ein in die Darstellungen von Träumen – albtraumartige Szenen oder tröstliche, die ­Realität aufsprengende Momente, Bilder von ganz weit her wie die übergangslos auftauchenden Jugenderinnerungen in »Wilde Erdbeeren« (1957) oder auch als eine Art Traumersatz, das Kino. Monika (Harriet Andersson), die mit dem Handelsgehilfen Harry einen Sommer in der unberührten Natur der Schären verbringt, spielt das Kino nach, ihre Liebesgeschichte wie auch ihre Attitüde beim Rauchen wirken wie eine Cover-Version. (Bezeichnenderweise ist es dann auch das Foto der Hauptdarstellerin Harriet Andersson, das Jean-Pierre Léaud in Truffauts »400 cents coup« aus dem Schaukasten eines Kinos klaut.) In »Das Gefängnis« gibt es eine Schlüsselszene mit einem Kinematographen, und in »Persona« macht Bergman den Illusionscharakter des Mediums Film sogar selbst zum Gegenstand, wenn er im Vorspann das Rattern eines Filmprojektors ertönen lässt und an einem dramatischen Wendepunkt der Handlung einen Filmriss simuliert. Und auch in seinen persönlichen Erinnerungen beschwört Bergman die Magie projizierter Bilder – »Laterna Magica« lautet der Titel seiner 1987 erschie­nenen Autobiographie.
Wiederholt öffnet Bergman die Enge des bürgerlichen Milieus durch verfremdende visuelle Elemente. In »Das Schweigen« driftet die kafkaeske Kulisse des Hotels mitunter fast in den Surrealismus, und auch das in Rot getauchte Zimmer aus »Schreie und Flüstern« enthebt das Setting der Realität. Der Kameraarbeit kommt hierbei eine wesentliche Rolle zu. Gunnar Fischer prägte mit seiner kontrast­reichen, expressionistischen Schwarzweißfotografie die Bildästhetik von insgesamt zwölf Filmen, während sich die Bilder des späteren, ungleich berühmteren Bergman-Kameramanns Sven Nykwist durch eine klare, vermeintlich sachliche Bildsprache auszeichnet, die eine eher unterschwellig suggestive Atmosphäre verbreitet. Untrennbar mit Bergmans Werk verbunden ist außerdem sein fester Schauspielerstamm, wobei sich besonders die »Bergman-Frauen« eingeprägt haben: Bibi Andersson, Ingrid Thulin, Liv Ullmann, Harriet Andersson.
Die Retrospektive zeigt neben kanonisierten Werken wie »Das siebente Siegel« (1956/57) oder »Fanny und Alexander« (1981/82) auch seine eher unbekannten Filme aus den vierziger und fünfziger Jahren, etwa seine Drehbucharbeit für Alf Sjöbergs »Die Hörige« (1944). Zu sehen sein werden auch die »Fårö-Dokumente« und Bergmans erster rein englischsprachiger Film »The Touch« (1970/71), eine mit Bergman-spezifischen Motiven durchsetzte Liebesgeschichte mit ungewöhnlich banalen, alltäglichen Zügen – dazu gehört beispielsweise eine mit schwedischer Schlagermusik unterlegte »Hausfrauenszene«. Das stilisierte, leicht gestelzte Englisch führt zu einem seltsamen Verfremdungseffekt, und mitunter wirkt der Film wie die Aufführung eines Bergman-Films in einer fremden Sprache. Die Filmessayistin Frieda Grafe weist in ihrer Kritik von »The Touch« ganz nebenbei auf einen Aspekt in seinem Werk hin, den man angesichts der überwältigenden Intensität seiner Höllen- und Angstszenarien gerne übersieht: »Bergman glaubt an die Abbildbarkeit des Menschen und seiner Probleme. So gesehen, war seine Welt immer eine heile Welt.«

Ingmar Bergman. Von Lüge und Wahrheit. Deutsche Kinemathek/Museum für Film und Fernsehen. Bis 29. Mai