Empfiehlt Bücher zur Ökonomiegeschichte

Der Kapitalismus ist keine Insel

Cord Riechelmann schlägt vor, zwei wichtige Neuerscheinungen zur Ökonomiegeschichte parallel zu lesen: Joseph Vogls Wirtschaftstheoriegeschichte »Das Gespenst des Kapitals« und Luc Folliets Reportage über »Nauru, die verwüstete Insel – Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte«

Das ökonomische Denken ordnet die Dinge nicht nach den Kategorien von »wahr und falsch«, »gut und böse«, »gerecht oder ungerecht«, sondern teilt sie nach »Gewinn und Verlust« ein. Bei Adam Smith, einem Klassiker der bürgerlichen Ökonomie, wird dieses ökonomische Denken von dem »stolzen und gefühllosen Grundherren« verkörpert, der den Blick über seine weiten Felder schweifen lässt und in seiner Phantasie die Früchte der gesamten Ernte verzehrt, ohne dabei einen Gedanken an die »Bedürfnisse seiner Brüder« zu verschwenden. Das »Fassungsvermögen seines Magens« aber »steht in keinem Verhältnis zu der maßlosen Größe seiner Begierden« und wirkt nun wie eine physiologische Grenze. So kommt es dazu, dass er den Rest des Ertrages verteilen muss, und gerade in seinem Verlangen nach einem Mehr an »Luxus«, »Kram und Tand« die Bedürfnisse der anderen stillt. Trotz oder gerade wegen ihrer »natürlichen Selbstsucht und Habgier« teilen also die Reichen ihren Reichtum mit den Armen.
Wörtlich fasst Smith in seiner »Theorie der ethischen Gefühle« von 1759 diesen wundersamen Segen, den die Reichen über die Welt bringen, so zusammen: »Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter all ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung.«
Das ist immer noch, auch wenn es schon ­etwas älter ist, das Credo jeder kapitalistischen Wirtschaftsweise. Der Antrieb zum Profit ist das subjektive Element innerhalb dieser ökonomischen Vernunftvorstellung. Und das Merkwürdige an dieser Vernunft bleibt bis heute der Umstand, dass ihr Subjekt buchstäblich keine Ahnung von dem hat, was es da macht. Dem Subjekt der ökonomischen Vernunft fehlt nicht nur der Überblick über die große weite Welt, sondern auch über seine »eigene« kleine. Und dennoch fügt sich alles nicht nur zum Guten, sondern zum Besten, weil da die unsichtbare Hand das Geschehen lenkt. Der Schauplatz des Geschehens ist der sogenannte Markt, und an diesem Ort muss es nur geschäftig genug zugehen, und alles wird gut.
Der Markt, den Adam Smith im Sinn hatte, war noch einer, auf dem reale Güter und reales Geld getauscht wurden. Dies lief zwar schon zu Smiths Zeiten nicht immer reibungslos, es bestand aber zumindest die Möglichkeit, dass der dort betriebene Realienhandel immer mehr Menschen mit Gütern, die sie zum Leben brauchen, versorgen würde. Es muss allerdings einschränkend angemerkt werden, dass es für Smith Grenzen der freien Marktwirtschaft gab. Für Straßen, Brücken, Kanäle und die Armee hatte seiner Ansicht nach der Staat zu sorgen. Für den Staat wiederum war die Politik zuständig, und in der Politik hatten seiner Meinung nach die Kaufleute nichts zu suchen, mehr noch: Sie stellten, wie er schrieb, dann eine Gefahr für das Gemeinwohl dar, wenn sie organisiert in die Politik eingriffen.
Man kann seine Diagnose heute zum Ausgangspunkt einer Analyse der gegenwärtigen Krisen machen. Denn es gehört zu den Eigen­arten der kapitalistischen Ökonomie, dass die Folgen ihrer Entscheidungsprozesse auch diejenigen zu spüren bekommen, die nicht an den Entscheidungen teilhaben. Und genau um die, die nicht an den Entscheidungen teilhaben, geht es in zwei neuen Büchern, die auf unterschied­liche Weise Aspekte des gegenwärtigen Kapitalismus untersuchen. Der Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl und der französische Journalist Luc Folliet ergänzen sich dabei auf eine Weise, die geeignet ist, die ökonomische Vernunft unserer Zeit theoretisch wie praktisch besser zu verstehen.
Vogl liefert in seiner Theoriegeschichte »Das Gespenst des Kapitals« eine luzide Darstellung des Weges, den die kapitalistische Ökonomie und ihre Subjekte seit den Tagen von Adam Smith bis in die Gegenwart der weitgehend entgrenzten Finanzmärkte zurückgelegt haben. Anhand eines konkreten Beispiels zeigt Folliet in seinem Buch, das eine gelungene Mischung aus Reportage und historischer Erzählung darstellt, wie das Kapital in der Gegenwart arbeitet. Schon der Titel seines Buches, »Nauru, die verwüstete Insel«, signalisiert, dass es sich dabei um die Beschreibung der Vernichtungsarbeit der kapitalistischen Ökonomie handelt. Beide Werke lassen sich auch deshalb gut parallel lesen, da sie ungefähr dieselbe Zeitspanne behandeln.
Nauru, eine kleine Insel im Pazifik, die 1968 ihre staatliche Unabhängigkeit von Australien erlangte, war in den siebziger und achtziger Jahren eines der reichsten Länder der Welt. Die Insel hatte in dieser Zeit das im Verhältnis zur Einwohnerzahl höchste Bruttoinlandsprodukt der Welt und schwamm geradezu im Geld. Der Reichtum der Insulaner basierte buchstäblich auf Scheiße, genauer: auf Vogelscheiße. Die Insel war über Jahrtausende ein Rastplatz für Zugvögel gewesen, und die bedeckten die Insel reich mit Guano, einer Mischung aus Vogelkot und den Skeletten verendeter Tiere. Guano liefert die Grundlage für den besten Phosphatdünger überhaupt. Und Phosphatdünger war einer der begehrtesten Rohstoffe in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Dünger war eine Grundvoraussetzung dafür, dass in den Industrienationen Europas sowie Australien die intensive Landwirtschaft überhaupt betrieben werden konnte.
Heute, da die Phosphatvorkommen fast erschöpft sind, bewegt sich Nauru am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Um die marode Ökonomie zu stabilisieren, hatte die Insel sich zeitweilig zum Geldwäscheparadies für Mafiosi aus aller Welt entwickelt. Colin Powell, US-amerikanischer Außenminister unter George Bush und gelernter Betriebswirt, zählte Nauru zu den »Schurkenstaaten«. Neben windigen Finanzgeschäften vermietete Nauru Teile der Insel an den australischen Staat, der dort Lager für pakistanische, afghanische und irakische Flüchtlinge einrichtete, die in Australien unerwünscht waren. Kurzzeitig war das Eiland auch als Endlager für australischen Atommüll im Gespräch.
Die Geschichte, wie der Inselstaat seinen fabelhaften Reichtum verspielte, schlägt den Bogen zu den Gespenstergeschichten des Kapitals, die Jospeph Vogl schildert. Nauru hatte in verschiedene Anlage- und Bauprojekte investiert und britische, amerikanische und australische Anwaltskanzleien und Bankberater mit Finanz­geschäften betraut, die zumeist den heute aus der Finanzkrise bekannten Weg nahmen. Das Geld verschwand bei allen möglichen Transaktionen, die Immobilien verloren an Wert, Kre­dite konnten nicht mehr bedient werden, mehr noch: Es mussten Kredite aufgenommen werden, um Kredite bedienen zu können. Bis dann die Bank von Nauru, die einst als eine der reichsten der Welt galt, nur noch einmal im Monat öffnete, um die Staatsbediensteten auszubezahlen. Im Kleinen vollzog sich auf Nauru das, was heute im größeren Maßstab Irland widerfährt: Die Insel erlebte ihren Abstieg von einem der reichsten Länder der Welt zum Bittsteller ohne Kreditwürdigkeit.
Nauru wird in seiner kurzen Geschichte zu einer Art Parabel der Wirren des Finanzmarktkapitalismus, zu dessen Merkmalen die Ununterscheidbarkeit von »natürlichen und künstlichen Reichtümern, von realer und virtueller Ökonomie« (Joseph Vogl) gehört. Der natürliche Reichtum der Insel, der auf dem Guano basiert, wird in Geld verwandelt, das in Finanzgeschäfte gesteckt wird und sich virtuell vermehrt, bis ­irgendwann die Rechnungen bezahlt werden müssen. Wie es zu diesem Selbstgespräch des Geldes kommen konnte, in dem »die Kreditzirkulation auf der Paradoxie eines ›sich selbst garantierenden Geldes‹ basiert« (Vogl), das zeichnet Joseph Vogl anhand von zwei historischen Terminen sehr detailliert nach.
Der erste denkwürdige Termin ist der 26. Februar 1797. An diesem Tag wurde die Bank von England durch einen Parlamentsbeschluss von der Verpflichtung befreit, »Banknoten in Münzgeld einzuwechseln und damit eine beständige Deckung des umlaufenden Papiergelds zu garantieren«. Eigentlich war das Land durch die Koalitionskriege zahlungsunfähig geworden, das englische Parlament konnte jedoch durch den Beschluss, Geld ohne Gegenwert drucken zu lassen, den Kursverfall in England aufhalten. Geld wird damit Kreditgeld »und also Versprechen auf Geld, es löst die Symmetrie von Tausch und Gegentausch auf«, schreibt Vogl über diesen historischen Moment. Man hat damit aber erst einmal nur die Voraussetzung einer vermeintlich von der »Realökonomie« völlig abgekoppelten Finanzwirtschaft geschaffen.
Real blieb die kapitalistische Wirtschaft immer wieder und durch alle Krisen hindurch ein Mix aus staatlichen und privatwirtschaftlichen Institutionen. Insbesondere während der beiden Weltkriege kam es zu vielfältigen institutionellen Kopplungen zwischen Privatwirtschaft und Staat. Staatliche Regulierungen, die die Rohstoffversorgung für den Krieg sichern und auch die Ernährung der Zivilbevölkerung gewährleisten sollten, behinderten den freien Markt und führten – sozialdemokratisch gedacht – auch zu sozial ausgleichenden Resultaten.
Den entscheidenden Angriff auf diese staat­lichen Regulierungen datiert Vogl auf den 11. März 1973. An diesem Tag wurde das Abkommen von Bretton Woods aus dem Jahr 1944, in dem der US-Dollar auf eine feste Umtausch­relation zum Gold gesetzt wurde, aufgekündigt. Damit war aber nicht nur der Goldstandard aufgegeben, sondern auch das System auf interna­tionaler Vereinbarung beruhender Wechselkurse eingestellt. Die Hoffnung auf ein System stabiler Wechselkurse wurde durch die Hoffnung auf ein stabiles System von Wechselkursen ersetzt, wie Vogl mit dem Ökonomen der freien Finanzmärkte, Milton Friedman, formuliert. Erst jetzt wird das Geld zu dem, was es seitdem ist: Spekulationsobjekt an Börsen. Das gab es vorher nur in seltenen Fällen, und diese blieben marginal. In der Folge dieses Märztages tauchen die neuen Finanzdienstleister auf, und die Termingeschäfte werden zu einer riesigen Industrie, die Wirtschaft und Politik gleichermaßen bestimmt. Was da aber bestimmt, ist eine »De-Repräsentation von Welt«, die mit »den Weltdingen nur unter der Bedingung ihrer Abwesenheit und Auslöschung hantiert«, schreibt Vogl. Im Termingeschäft beziehen sich Preise nicht auf Waren oder Güter, sondern selbst wieder auf Preise. Dort werden gegenwärtige Preise für Nichtvorhandenes nach der Erwartung künf­tiger Preise für Nichtvorhandenes bemessen.
Ein Geschäft, das trotz seiner Fiktionen und Imaginationen aber alles andere als harmlos ist und von derem unkreativen Zerstörungspotential auch die Geschichte Naurus erzählt.

Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Diaphanes, Zürich 2011, 224 Seiten 14,90 Euro
Luc Folliet: Nauru, die verwüstete Insel – Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011, 144 Seiten, 10,90 Euro