In Italien gibt es keine Opposition

Der Aufstand der Anständigen

Die Kritik an Berlusconis Privatleben hat zu einem Rollentausch in der italienischen Gesellschaft geführt. Neuerdings appellieren vor allem die Linken an Sitte und Anstand.

Die heftigen Reaktionen des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe lassen sich nicht nur mit dem Verfolgungswahn des italienischen Premierministers erklären, der sich seit Jahrzehnten zu einem Opfer der Justiz stilisiert. Die Ankündigung Berlusconis, »den Staat anzuzeigen«, und sein Gerede von einem »moralischen Putsch« sind vielmehr Anzeichen einer konkreten Angst: Diesmal könnte er tatsächlich nicht ungeschoren davonkommen.

Doch welche Folgen hätten eine mögliche Verurteilung und der Abgang des Premierministers? In erster Linie würde dies eine institutionelle Krise mit ungewissem Ausgang auslösen. An der derzeitigen politischen Situation im Land würde sich dadurch jedoch kaum etwas ändern. Wer die italienische Politik aus dem Ausland betrachtet, übersieht häufig einen Aspekt, der banal erscheinen mag – nämlich, dass Berlusconi über eine solide Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments verfügt, die nach der Krise im Dezember sogar größer geworden ist. Kein Wunder also, dass Anfang Februar die Mehrheit der Abgeordneten einen Antrag des Staatsanwalts zurückwies, im Rahmen der jüngsten Ermittlungen eines der Anwesen des Ministerpräsidenten durchsuchen zu lassen.
Außerdem ist es auch die italienische Gesellschaft, die Silvio Berlusconi unterstützt. Jüngsten Umfragen zufolge liegt seine Partei, Volk der Freiheit (PDL), bei knapp 30 Prozent und bleibt die stärkste Partei Italiens. Gemeinsam mit den Rechtspopulisten der Lega Nord und mit kleineren Parteien erreicht das rechte Spektrum mehr als 40 Prozent und stellt damit die einzige mögliche parlamentarische Mehrheit in Italien.
Doch der wichtigere Aspekt in diesem Zusammenhang ist die völlige Abwesenheit eines poli­tischen Konzepts der Opposition. Die Opposition attackiert Berlusconi seit Jahren mit juristischen und neuerdings auch mit moralischen Argumenten, aber eine politische Kritik wird kaum artikuliert. Ohne die Initiative der Mailänder Staatsanwaltschaft hätte es gar keine Krise gegeben. Hinzu kommt, dass die italienische Öffentlichkeit sich in ihrem Urteil über das private Verhalten des Premierministers weniger einig ist, als es nach den Demons­trationen der vergangenen Wochen erscheinen mag – was vermutlich daran liegt, dass die katholische Doppelmoral schon immer eine wichtige Rolle in der Gesellschaft gespielt hat. Die Tatsache, dass die Moral zum wichtigsten Schauplatz der politischen Auseinandersetzung geworden ist, zeigt, wie schwach die italienische Linke ist.

Die Abwesenheit einer politischen Opposition wird deutlich, wenn man konkrete politische Fragen betrachtet. Nehmen wir etwa die Arbeitsmarktpolitik mit dem jüngsten Beispiel des Fiat-Konzerns und des Referendums über einen neuen Tarifvertrag (Jungle World 3/2011). Die Demokratische Partei, die größte linksliberale Oppositionspartei Italiens, hat niemals, auch in diesem Fall nicht, die Politik des laissez-faire der Regierung gegenüber der Wirtschaft bekämpft. Die Wirtschaftspolitik und die systematischen Kürzungen der Sozialausgaben werden parteiübergreifend unterstützt. Dasselbe gilt für die Bildungsreform, gegen die die Partei ihre Opposition nur vortäuschte, während Zehntausende Studentinnen und Studenten wochenlang dagegen protestierten und gemeinsam mit sozialen Bewegungen auf die Straßen gingen (51/2010). Auch die Finanzierung der Militärmission in Afghanistan wurde im Namen des »nationalen Interesses« vom gesamten Parlament verabschiedet.
Diese politische Einmütigkeit entspricht einer verbreiteten und grundsätzlich rechten politischen Kultur, die von den Themen innere Sicherheit und illegale Migration geradezu besessen ist. Als die Regierung vor drei Jahren nach antiziganistischen Pogromen damit begann, Fingerabdrücke von in Italien lebenden Roma zu erfassen und sie in einer speziellen Datenbank zu speichern, befürworteten mehr als 70 Prozent der befragten italienischen Bürger diese Maßnahme.
Der wachsende Erfolg der offen xenophoben Lega Nord entspricht einem vor allem im Norden des Landes verbreiteten Gedankengut, das längst kein Monopol der rechten Parteien mehr ist. In den neunziger Jahren, als Berlusconi fast immer in der Opposition war, waren es die von den Mitte-Links-Parteien regierten Kommunen, die Kampagnen für die »Sicherheit der Städte« starteten, welche sich meistens gegen Ausländer richteten und der verbreiteten Fremdenfeindlichkeit eine institutionelle Legitimierung verliehen.
Zwar wird Berlusconi weiterhin als der erfolgreiche Geschäftsmann dargestellt, der die politische Linke besiegt hat. Doch es handelt sich hierbei um einen fiktiven Gegensatz. In einem Land, in dem die Großindustrie de facto verschwindet, in dem keine Modernisierung stattfindet und kaum mehr technologische Güter produziert werden, vertritt Berlusconi einen diffusen, familiären, mafiösen Kapitalismus, der im globalen Wettbewerb nur dann überleben kann, wenn genügend unterbezahlte und gewerkschaftlich unorganisierte Arbeitskraft vorhanden ist. Ähnlich verhält es sich mit der Identifikation eines Teils der italienischen Gesellschaft mit der Person Berlusconi, nämlich mit einem Unternehmer, der vielen Männern, aber vor allem Frauen aus seiner Entourage zu einer Karriere als Abgeordnete oder gar Ministerin verholfen hat, ohne dass sie irgendeine Erfahrung in der Politik aufweisen konnten.
Im Rahmen der Ermittlungen über die privaten Gewohnheiten des Premierministers kam heraus, dass viele der jungen Frauen, die in seiner Villa verkehrten, weil sie sich offenbar von der prominenten Bekanntschaft den Durchbruch mit einer Karriere als Showgirl erhofft hatten, Absolventinnen von zum Teil sehr renommierten italienischen Universitäten sind. »Ich bin die Unternehmerin meines eigenen Körpers«, soll eine von ihnen gesagt haben, wie die Abhörprotokolle belegen. Aber auch in diesem Fall trifft die moralische Empörung nicht das eigentliche Problem.

Berlusconi hat die sogenannte Pornokratie nicht erfunden. Auf das Tauschsystem aus Geld, Sex und Macht, das Italien derzeit regiert, hat er kein Copyright. Es handelt sich vielmehr um eine Entwicklung der italienischen Gesellschaft, die den »Erfolg um jeden Preis« postuliert. Ein akademisches Studium ist keine Garantie mehr für den begehrten »Platz an der Sonne«, für eine erfolgreiche Karriere oder einfach nur für einen sicheren Job und ein Leben ohne finanzielle Sorgen. Die Telefonate der »Damen von Arcore« zeigen, dass hier ein ganzes Wertesystem ins Wanken geraten ist. In einem Gespräch mit ihrem Vater erzählt zum Beispiel eine junge Frau, die auf mehreren Partys in Berlusconis Mailänder Villa war, von ihren Abenden und von den teuren Geschenken, die sie dafür bekommen hat. »Sei nicht so dumm, nächstes Mal musst du mehr verlangen«, kommentiert der Vater, dem Mitschnitt zufolge.
Das ist in der Tat verwirrend. Der moralisch-politische Konflikt, der derzeit in Italien stattfindet, hat zu einer Umkehrung der traditionellen Zuschreibungen im Bereich der Ethik und der Moral geführt. Seitdem der Premierminister munter von einer Sexaffäre in die andere taumelt, erklären sich rechte Politiker zu Verteidigern der individuellen Freiheit und eines paradox anmutenden »Rechts auf Selbstbestimmung«. Die Linke verteidigt dagegen die Legalität und den Anstand um jeden Preis. Linksliberale Laizisten beziehen sich neuerdings sogar auf die Kritik des Vatikans am privaten Verhalten Berlusconis und fordern eine »öffentliche Moralität«. So wird die für den katholischen Konservatismus typische moralische Strenge neu kodiert. »Gott, Familie und Vaterland« haben im Diskurs der gemäßigten Linken die Parolen von sozialer Gerechtigkeit und Selbstbestimmung ersetzt.
Dieser Rollentausch zwischen Rechts und Links ist nicht nur ein kurioses soziologisches Phänomen, sondern eine Entwicklung hin zu einem moralischen Fanatismus, die politische Folgen haben könnte. Vor allem für die Schwächeren der Gesellschaft, nämlich die »Fremden«, die Unangepassten, die Störenfriede. Denn die juristische und die moralische Strenge unterscheidet nicht qua Definition zwischen den Verbrechen der Schwachen und denen der Mächtigen, zwischen Straftaten und »moralischen« Vergehen. Und hier schließt sich der Kreis, denn über das Thema der sozialen Kontrolle herrscht zwischen Rechten und Linken in Italien weitgehend Übereinstimmung.
Die italienische Krise ist also die Krise einer Gesellschaft, in der sich persönliche Macht im Rahmen der Institutionen des Staats durchgesetzt hat und die öffentliche Debatte seit rund 20 Jahren blockiert. Möglicherweise befinden wir uns am Ende dieser Ära. Die sozialen und kulturellen Bedingungen, die diese Macht ermöglicht haben, bleiben jedoch dieselben. Die »italienische Anomalie« endet nicht mit dem Ende von Berlusconi und seinem Machtsystem. Und so stellt sich die Frage, ob Italien, das von ausländischen Kommentatoren oft als exotische Ausnahme im heutigen Europa bezeichnet wird, nicht weniger eine Abweichung als vielmehr die Vorwegnahme der Zukunft der westlichen Demokratien darstellt.